Foto: Tone Stojko

Aus dem Bosnischen von Margit Jugo […] Darüber dachten Petar und Pavle nach, als sie aus dem Restaurant, auf den vom Regen ausgewaschenen Asphalt traten. „Lass uns ins Kino gehen“, sagte Petar, „es ist Silvester, aber soweit ich weiß, sind die Kinos heute offen.“ „In welchen Film?“, fragte Pavle. „Irgendeine romantische Komödie, wie immer. Was ich dich noch nie gefragt habe: Ist dir aufgefallen, dass es in guten romantischen Komödien nie Sexszenen gibt, nie nackte Körper – die Figuren sind fast körperlos, als würden nur ihre Gesichter existieren“, sagte Petar. Pavle lachte, sein lautes Lachen begleitete den Hall ihrer Schritte, während sie die Straße hinuntergingen. Die Straßenlaternen warfen ihre Schatten auf den nassen Gehweg. Es wäre unmöglich gewesen, in ihren gestaltlosen, assymetrischen Silhouetten zwei Arm in Arm gehende menschliche Körper zu erkennen. Ihr geht natürlich davon aus, dass unsere rührende und lehrreiche Geschichte von der christlichen Tugend hier noch nicht zu Ende ist. Ihr habt die Gesetzmäßigkeit erkannt: Unsere Storys spielen an Silvester, und jede von ihnen endet mit einem Ausfall: einem Entgleiten aus der Erwartung, aus dem physisch Möglichen und erzählerisch Gerechtfertigten. Und auch diese Geschichte ist keine Ausnahme. Ein wenig Exzessivität, ohne die es wahre Kreativität nicht gibt, hat jedoch noch nie jemanden umgebracht. Genauso wenig wie ein bisschen Verstand. Trotzdem meiden die Menschen sowohl das eine als auch das andere wie die Pest: so als würde der enge Kontakt damit sie einer Seuche und anhaltendem Unglück aussetzen. Unsere Protagonisten machten sich also auf den Weg ins Kino. Ihr Weg führte sie über den Hauptplatz der Stadt. In der Gasse, die zum Platz führte, trafen sie auf einen Mann, der auf einem Bierkasten saß und laut schluchzte. Sie versuchten ihn zu trösten – vergebens. Seine Stanka sei gestorben, sagte er. Sie sei gestorben, und nun sei er ganz allein auf der Welt, allein mit seiner Schuld, sie nicht gerettet zu haben, vertraute er ihnen an. Nur ungern ließen sie ihn zurück, erst dann, als sie aus seiner nervösen Reaktion auf ihren Tröstungsversuch schlossen, dass er nicht getröstet werden wollte. Sie standen auf dem Platz. Auf einer großen Videoprojektion zeigte ein anonymer VJ Nachrichten aus Frankreich: Die Bewohner eines kleinen Dorfes lebten in Angst, da ihre Toten ins Leben zurückkehrten. Ein Winzer, dessen scheußliche Tropfen aus verschiedenen Lesen bereits mehrfach mit Goldmedaillien ausgezeichnet worden waren, hatte vor dem Einkaufszentrum seinen Großvater getroffen. Im Unterschied zu den billigen hollywoodschen Phantasien über The Walking Dead jagten die französichen Toten die Lebenden nicht, um sie aufzuessen. Sie jagten sie, um Sex mit ihnen zu haben. „Tinder für Nekrophile scheint gerade möglich geworden zu sein“, konstatierte Pavle erfreut, um dann nicht ohne Wehmut hinzuzufügen: „Die Leute werden nie begreifen, dass auch wir lieben: Unsere Liebe kommt nur etwas zu spät, sie verspätet sich, sie ist das in die Zeit gesetzte Ungewöhnliche, das in den Tod gesetzte Ungewöhnliche, der die Liebenden in unserem Fall verbindet; aber wahrhaftig ist sie allemal. Der Lärm, den sie vernahmen – ein geheimnisvolles Donnern, das den Boden erzittern ließ – ließ sie verstummen. Vor ihnen tauchte ein roter Bus auf, einer derjenigen Busse, die ehemals in ganz Jugoslawien Passagiere beförderten. Der gehört hier nicht hin, nicht in diese Zeit: Der Platz ist schon seit zehn Jahren für den Verkehr gesperrt, konnten sie gerade noch denken, bevor ein mit Schotter beladener LKW vor dem Bus auftauchte. In voller Fahrt. Der Zusammenstoß mit dem Bus war unausweichlich. Das Nahverkehrsfahrzeug überschlug sich. Passagiere fielen heraus. Manche blieben in ihrem Blut reglos auf dem Asfalt liegen. Manche riefen auf einer Sprache um Hilfe, die Pavle und Petar nicht verstanden. Der LKW stand in Flammen. Der Fahrer loderte, und in seiner Agonie rief er Ihn um Hilfe an. Was sollen wir sagen: Wie üblich wird Gott nicht helfen. Wir könnten helfen. Aber wir sind, beinahe hätte ich „ein Mensch“ gesagt, von feiner Manier – wir kommen niemals ungebeten, auch nicht in die Seele eines Sterbenden. Für gute Christen, die es gewohnt sind, überall – von der Kirche bis zum Ehebett – zu vergewaltigen, ist der konsensuelle Sex der Post-Me Too-Zivilisation Qual und Verhängnis. Für uns aber ist der Konsens, seit es uns gibt – also das heißt … nun ja, seit jeher – Modus Operandi. Wir wollen nichts, was ihr nicht auch wollt – das, wovon ihr noch nicht wisst, dass ihr es wollt, mit eingeschlosssen. Und trotzdem sind wir diejenigen mit dem schlechten Ruf. Ja, wir geben das Unleugbare zu: Diese Verleumdungen beunruhigen uns. Natürlich sind wir notorisch damit beschäftigt, wo doch Ozeane voller Propaganda gegen uns in die Welt gegossen worden sind. Noch nie wurde jemand so verleumdet wie wir. Und warum? Weil wir für euch da waren, eure geheimsten Wünsche erfüllt haben, die Wünsche, die ihr niemandem anzuvertrauen gewagt habt. Niemand war in diesem Sinne intimer mit euch als wir. Wenn Er der Vater ist, dann sind wir – und falls euch dieser Vergleich stört, dann ist es nur ein Zeichen dafür, dass nicht nur euer Körper und euer Leben dem retardierten Patriarchat zum Opfer gefallen sind, sondern auch euer kognitiver Apparat – die Mutter. Ihn fürchtet ihr, uns vertraut ihr euch an. Weil ihr wisst: Alles, was der Vater verurteilt, wird die Mutter verstehen. Und das haben wir: Wir haben verstanden. Und was hat es uns gebracht? Letztlich habt ihr uns den Rücken gekehrt und seid in die tyrannischen Arme des Vaters zurückgekehrt, vor uns fliehend wie sprichwörtlich der Teufel vor dem Kreuz.

Aber gut, zurück zur Geschichte. Unser Geständnisexkurs hat der Erzählung geschadet, sie unterbrochen. Dessen sind wir uns bewusst. Aber eure Erzählregeln gelten für uns nicht. Ihr seid Gebote gewohnt, wir Geständnisse. Und die tyrannische, brutale Konzision des Gebots schmückt kein Geständnis, sei es noch so ehrlich – schon gar nicht das ehrlichste.

Also, Petar und Pavle wohnten dem fatalen Zusammenstoß bei. Noch bevor sie die Toten zählen konnten – was ihnen, offen gesprochen, auch nicht in den Sinn kam – schlugen Bomben auf dem Platz ein. In einem zerstörerischen Anflug auf Podgorica warfen Flugzeuge ihre tödliche Last ab. Was unsere Protagonisten nicht wissen konnten, wir als allwissender Erzähler aber wissen: Sie wohnten der alliierten Bombardierung Podgoricas bei, einer identischen Kopie dessen, was am 5. Mai 1944 geschehen war. Wie damals flogen gerade 116 Maschinen des Typs „B-24 Liberator“ über die Stadt. Die Glavatović-Moschee und die katholische Kirche standen in Flammen. Wäre die wiederholte Bombardierung zu Ende gebracht worden, hätte sie erneut 400 Zivilisten das Leben gekostet. Warum es anders kam? Weil – und hier ist die suspension of disbelief eine ernsthafte Herausforderung, selbst für einen so geschickten und erfahrenen Erzähler wie uns – vor Pavles und Petars Augen in der ganzen Stadt Bauwerke aus dem Boden schossen, wie sie die Welt noch nie zuvor gesehen hatte: Türme, die sich bis unter die Wolken in den Himmel hoben, seltsam geformt und von Kletterpflanzen bewachsen, von denen unsere Protagonisten keine einzige wiedererkannten. Die Flugzeuge stießen, unter den Nachthimmel erleuchtenden Explosionen, gegen diese Türme, bis irgendjemand deren Rückzug anordnete. Unklar blieb, ob der Befehl „Zurück!“ die Rückkehr durch den Raum oder durch die Zeit bedeutete. Okay: Uns ist es klar, wir sind allwissend, aber wir dürfen es euch in diesem Stadium unserer Geschichte nicht anvertrauen. Diese Information ist mit einem roten „Spoiler Alert“-Zeichen versehen.

„Fuck“, sagte Pavle.
„Fuck“, sagte Petar.
[…]