Foto: Boris Đurović
Aus dem Montenegrinischen von Elvira Veselinović
Wenn wir den Intoleranten gegenüber tolerant sind, wird dies mit der Zeit zur Vernichtung der Toleranz führen. So lautet Poppers Paradoxon, das die scheinbar widersprüchliche Vorstellung beschreibt, im Falle unbegrenzter Toleranz werde es dazu kommen, dass die Intoleranten die Toleranten „abschaffen“. Von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums ist zu hören, dass jeder Gedanke auf dem „Marktplatz der Ideen“ präsentiert und diskutiert werden sollte, um anschließend anerkannt oder disqualifiziert zu werden. Wie weit darf das gehen? Wann endet die Freiheit und wann beginnt das Verbot? Als „berechtigtes Anliegen“ kann beispielsweise die Tatsache angeführt werden, dass durch Steuerabgaben ein bestimmter Teil des Geldes dazu verwendet wird, Menschen mit Behinderungen das Leben zu erleichtern. Irgendwann würde dies möglicherweise zu Eugenik oder sogar zu Massenmord führen. Sollten wir auch darüber diskutieren, ob einige Nationen anderen dienen sollten, weil sie „einen niedrigeren IQ haben“? Sollten wir denjenigen eine Plattform bieten, die glauben, dass der Völkermord in Srebrenica eine Verschwörung war, die es nie gegeben hat? Sollten wir den Popen einer parapolitischen Organisation einladen, bei einer mit öffentlichen Mitteln geförderten Veranstaltung über das Abtreibungsverbot zu sprechen? Meine Antwort ist klar: Nein. Gewalt, egal ob verbal oder körperlich, wird in dem Moment legitimiert, in dem sie im öffentlichen Raum zur „Debatte“ gestellt wird. Sie wird dann zu einer gültigen Option für diskursives Handeln, die als erwägenswerte Alternative konstruiert wird.
Über alles ließe sich streiten, wären die Menschen rationale Wesen, denen alle Ressourcen zum Nachdenken zur Verfügung stehen … Aber das sind wir nicht. Bis man 30 wissenschaftliche Referenzen hervorgekramt und mit einer komplexen Dialektik begonnen hat, hat Otto Normalverbraucher, der Ausbeutung müde und vom Scheitern frustriert, bereits zur Spitzhacke gegriffen. Otto mag keine Veränderungen, denn bisher war jede einzelne eine Veränderung zum Schlechteren. Außerdem hat er Angst davor, anders zu sein, und nährt sich von der Vorstellung, dass sich alle gegen ihn und sein Volk verschwören, weshalb er nur nach einer Zielscheibe sucht. Bis man ihm erklärt hat, dass die Randgruppen nicht schuld sind – und während man darauf hinweist, dass es die Politiker, Tycoons und Konzerne sind, die ihm das Leben schwer machen – hat er bereits mit Steinen nach einer „Schwuchtel“ geworfen, weil dieser die „Familienwerte ausrottet“ und einen Behinderten kastriert, weil er ihm „die Butter vom Brot nimmt“. Scheiße auch. Verschiedene Ottos würden über die zuvor angeführten Fragen über Behinderung, Srebrenica und Abtreibung klar und deutlich ausrufen: JA! Genau aus diesem Grund glänzt der Neofaschismus unter dem Deckmantel des Pluralismus und einer verzerrten Definition von Demokratie, die „vergisst“, dass unsere Freiheit dort endet, wo die Freiheit der anderen beginnt. Der abgestandene Gestank des Hasses wird dieses Mal unter dem Deckmantel der freien Meinungsäußerung freigesetzt.
Bei der russischen Invasion – und wie Metropolit Joanikije anmerkt, ist Montenegro eine kleine Ukraine – ist das bereits passiert. Die Rhetorik der Meinungsfreiheit und des Kampfes gegen die Cancel Culture wird von niemand Geringerem als Wladimir Putin angewendet. Ja, Faschisten nennen Antifaschisten Faschisten, und sie rechtfertigen ihre Position des Hasses und der Intoleranz mit Debatten. Der Faschismus hat sich weiterentwickelt, und bis er zum vorherrschenden Paradigma wird, wird er sich nicht mit Verboten beschäftigen, sondern mit Diskussionen, die auf Hass basieren. In dem Moment, in dem wir in eine Debatte über grundlegende menschliche Prinzipien geraten, haben wir bereits verloren. Der Wert hört auf, Axiom zu sein, und ist nur noch eine Meinung von vielen.
Dies bringt uns zur Hauptprämisse: Redefreiheit gibt es in Montenegro nicht. Es gibt nur die Freiheit zu hassen. Axiome der Autonomie des weiblichen Körpers, der Existenz der Montenegriner und der montenegrinischen Sprache, die Verurteilung der Teilnahme Montenegros am Krieg der Neunziger Jahre und der Respekt vor dem Erbe des antifaschistischen Befreiungskampfes sind lediglich ein paar Meinungen. Aber darüber hinaus gibt es als Wahrheit verkündete Lügen, als Kritik getarnte Verleumdungen und leere Gerippe, die einst eine Bedeutung hatten. Tschetniks sind „Widerstandskämpfer gegen die Besatzer“, Prepaid-Phrasendrescher sind „öffentliche Intellektuelle“ und der geistliche Todeshauch ist eine „Erfrischung“.
Montenegro ist ein schmollendes Kind, das sich selbst und seine Eltern belügt – heute sei gar kein schlechtes Wetter, nur damit sie mit ihm in den Park gehen, während draußen die Scheiben veralteter Autos vom Hagel zertrümmert werden. Die Frage ist, wie lange wir noch lügen werden, dass draußen ein sonniger Tag ist und dass Freiheit des Hasses in Wirklichkeit Redefreiheit ist … nur damit unsere Mutter mit uns in den Park geht.