Foto: Milutin Marković

Aus dem Montenegrinischen von Martin Henzelmann
(Crnogorski jezik 1768−2020: bibliografija, Fakultet za crnogorski jezik i književnost, JU Biblioteka „Radosav Ljumović“, Cetinje – Podgorica, 2022)

Seit Kurzem ist die philologische, akademische und kulturelle Öffentlichkeit in Montenegro und im Ausland um ein Zeugnis der Herausbildung montenegrinischer Studien als eigenständige Disziplin reicher, die insbesondere ihren sprachlichen Hintergrund abdeckt. Es handelt sich dabei um das hier anzuzeigende Buch mit dem Titel Crnogorski jezik 1768−2020: bibliografija. Den angesehenen montenegrinischen Bibliographen Petar Krivokapić und Nada Drašković ist die Realisierung dieser Arbeit zu verdanken. Möglich wurde dies durch die Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Verlag der Fakultät für montenegrinische Sprache und Literatur in Kooperation mit der Nationalbibliothek „Radosav Ljumović“. Die Herausgeber der Publikation sind Adnan Čirgić, Aleksandar Radoman und Sanja Vojinović.

Das Buch umfasst 13.437 Einträge, die auf nahezu 1.000 Seiten verzeichnet sind. Die Autoren haben ihr Werk sinnvoll gegliedert, indem sie das Material aus dem angegebenen Zeitraum thematisch sortieren – und zwar nach „Sonderausgaben (Bücher, Sammelbände, Einzelausgaben)“, „Anhängen zu Büchern und Sammelbänden“ und „Anhängen zu Zeitschriften“. Um diese immense Menge an Material möglichst transparent aufzubereiten und die Durchsicht zu erleichtern, wurden die Register „Verfasserverzeichnis“, „Fachverzeichnis“ und „Verzeichnis der verwendeten Literatur“ voneinander getrennt. Auf den ersten Seiten dieser Ausgabe finden sich kurze Herausgebertexte mit Hinweisen auf die Bedeutung des Gesamtprojekts für die Montenegrinistik sowie zur konzeptionellen Aufbereitung, methodischen Ansätzen und Arbeitsweise.

Das Ergebnis dieser Publikation ist, dass Beiträge, Studien, Debatten, Präsentationen, Monographien, Zeitschriften, Anthologien wissenschaftlicher Arbeiten u.a. zusammengetragen wurden, anhand derer sprachliche Entwicklungsstufen und Prozesse der Sprachgenese skizziert werden. Es handelt sich daher um Zeugnisse wichtiger Ereignisse im Zusammenhang mit der Sprache Montenegros, ihrem Namen, der Sprachpolitik und der Gesetzgebung. Damit ist es gelungen, Literatur über die innere und äußere Sprachgeschichte stringent zu vereinen. Offensichtlich muss die Geschichte der montenegrinischen Sprache in verschiedene Richtungen gedacht werden, die mit unterschiedlichen kulturellen und ideologischen Einflüssen verquickt sind – und ebenso, dass diese Geschichte vor dem Hintergrund diverser staatlicher und rechtlicher Konstrukte verlief. Daher verwundert es nicht, dass die Sprache Montenegros verschiedene Bezeichnungen erfuhr, und all diese Aspekte werden mit der angemessenen Kontextualisierung im vorliegenden Werk feinfühlig zusammengeführt, was die Lektüre zweifelsfrei in den Kreis eines gesellschaftsrelevanten Gutes sowie erhebt und daher per se als Erbe für kommende Generationen konstruiert ist.

Die Publikationen zur montenegrinischen Dialektologie im Werk sind in Bezug auf ihre Anzahl und ihre Qualität besonders erwähnenswert. Trotz der ständigen scharfen Grenzziehung zwischen unseren štokavischen Varietäten können wir aus den Registern in dieser Bibliographie entnehmen, dass das, was in bisherigen Veröffentlichungen betont wird, in der Tat die Kompaktheit des Sprachgebiets offenbart. Andererseits ist es hinlänglich bekannt, dass diese „Unterschiede“ nicht sonderlich relevant sind, mit Ausnahme der markanten Akzentuierungen.

Es gab zahlreiche ungenaue und falsche Zuordnungen von montenegrinischen Dialekten, und die wahrscheinlich stichhaltigste und prägnanteste Antwort auf die Notwendigkeit, montenegrinische Dialekte auch als „montenegrinisch“ zu benennen, findet sich in einem Text aus dem Jahr 1984, den niemand Geringeres als der berühmte Slavist Josip Hamm verfasste.

Die Montenegriner sind stolz darauf, dass während der gesamten Dauer der jugoslawischen Union neben Alexander Belić die angesehensten unter den Philologen ethnische Montenegriner waren, so etwa Danilo Vušović, Mihailo Stevanović, Radosav Bošković, Milija Stanić, Jovan Vuković, Luka Vujović, Mitar Pešikan, Dragoljub Petrović, Dragomir Vujičić oder Mato Pižurica, um nur einige zu nennen, und alle sind neben ihren Fähigkeiten in sämtlichen Disziplinen auch herausragende Dialektologen. Ohne ihre Monographien und Studien hätten wir kein vollständiges Mosaik der štokavischen dialektalen Landschaft.

Die Relevanz der Strömung geht unter anderem aus der Monographie mit dem Titel „Dijalektologija crnogorskoga jezika“ hervor, einer konzisen Systematisierung, die von Adnan Čirgić zusammen mit Dragoljub Petrović – gegenwärtig unserem renommiertesten Dialektologen – verfasst wurde.

Neben Arbeiten zur Dialektologie existieren zahlreiche Studien zur montenegrinischen Onomastik, Lexikologie, Lexikographie, zudem Abhandlungen zum Wortschatz und zur Sprache bedeutender montenegrinischer Schriftsteller. Im Zusammenhang mit dem Studium der Sprache der Schriftsteller lohnt sich beispielsweise ein Blick in das Korpus zu Njegoš und Ljubiša, welches eine ungeahnte Fülle an montenegrinischen Topoi beinhaltet.

Wenn wir uns nun den Inhalt der hier anzuzeigenden Publikation näher ansehen, so stellen wir fest, dass die Herausbildung der montenegrinischen Sprache und die Bestrebungen nach ihrer Institutionalisierung darin deutlich herausgearbeitet werden. Die Etablierung der Montenegrinistik als System zur Erforschung des literarischen, sprachlichen, kulturellen und spirituellen Erbes Montenegros beginnt mit der Generation, die in den 1960er Jahren weit mehr als im Rahmen des philologischen Berufsstandes eine emanzipatorische Richtung einschlagen sollte. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wuchs nämlich die Zahl der Aktivitäten, die mit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 2007 und Montenegrinisch als Amtssprache, der Standardisierung der montenegrinischen Sprache und anderen Neuerungen gekrönt wurde. Die Arbeit an der Definition des Montenegrinischen im Zusammenhang mit normativen Regelwerken und Handbüchern wurde teilweise von einer hitzigen Polemik begleitet, sodass ein Teil unserer Kollegen den Standardisierungsprozess der montenegrinischen Sprache sogar als nationalistisches Projekt bezeichnete. Dies entbehrt freilich jeglicher Grundlage, denn darum ging es nie. Vielmehr wurden Werke zur Orthographie und Grammatik bereits vor mehr als einem Jahrzehnt vorgelegt, was übrigens auch anderswo auf der Welt geschieht, und diese Herausgaben wurden wohlwollend und nachhaltig von Autoritäten wie Josip Silić, Ivo Pranjković und Adnan Čirgić unterstützt.

Wir sehen den Reichtum des hier vorgestellten Buches in erster Linie darin, als dass es Auskunft gibt über die Anfänge der Polemik, die rund um einige unserer sprachlichen Besonderheiten seit dem 19. Jahrhundert in vereinzelten Kreisen kursiert. Eine dieser Kontroversen besteht zwischen zwei Antagonisten. Der erste davon ist L. Tomanović, Premierminister der montenegrinischen Regierung, Minister, Richter und Schriftsteller, der sich für das Recht einsetzte, die Feinheiten der montenegrinischen Sprache in der öffentlichen Kommunikation auch offiziell zu verwenden. Die Gegenseite wird durch J. Pavlović personifiziert, einen Kultur- und Bildungsarbeiter aus Sremski Karlovac, der in Montenegro tätig ist. Er ist ein Anhänger des Sprachbegriffs von Karadžić-Daničić, der allgemeine montenegrinische Sprachmerkmale wie beispielsweise das Phonem /ś/ oder das Jekavische abwertend als Provinzialismen erachtet. Wir sollten dabei nicht übersehen, dass die Verwaltung des Verbandes der Schriftsteller in Montenegro schon 1971 eine Erklärung abgab, in der die Anerkennung der štokavischen Varianten in Montenegro neben den anderen sprachlichen Formen im damaligen Jugoslawien eingefordert wurde. Weiterhin wird die Behauptung zurückgewiesen, die heutigen Standardsprachen im štokavischen Sprachraum seien, wie hier und da zu hören ist, durch den „Zerfall“ der serbokroatischen Sprache entstanden, wobei schon interessant zu wissen wäre, wie man besonders im Ausland auf die Idee kommt, eine Sprache könne in sich zerfallen. Aus diesem Grund muss davon ausgegangen werden, dass die breite Öffentlichkeit vor allem deshalb am Buch interessiert sein wird, da es die Arbeiten einheimischer und ausländischer Philologen über die soziolinguistische Identität des Montenegrinischen in den gemeinsamen štokavischen Sprachkontext einordnet. In dieser Hinsicht ist das Verständnis für die Beziehung zwischen einem Sprachsystem und dem jeweiligen nationalen Standard in der Fachpublikation von grundlegender Relevanz. Studien und Literatur zu Themen mit Bezug zu Montenegro sind in der Slavistik gut sichtbar, seitdem die Fakultät für montenegrinische Sprache und Literatur an ihrer Herausgabe maßgeblich beteiligt ist und nachhaltige Kooperationen mit ausländischen Institutionen pflegt. Das Buch knüpft an diese geläufige Praxis an, es zeigt zudem, dass slavische Gegenwartsliteratur nach ihrem Erscheinen schnell in der montenegrinischen Sprachwissenschaft ihre gezielte Anwendung findet und dass unsere Kollegen im In- und Ausland samt ihren wichtigsten Institutionen in Wissenschaft und Kultur zunehmendes Interesse an der montenegrinischen Sprache zeigen. Gestützt auf eine reiche Vergangenheit in Form von wissenschaftlichen Arbeiten samt der Auswertung darin abgehandelter Themen beharrt die heutige Generation von Montenegrinern auf wissenschaftlichen Kriterien und der akademischen Selbstbehauptung neuer Errungenschaften in dieser Disziplin. Auf die Werke aus den Registern des vorliegenden Buches, unter denen es sehr viele anspruchsvoll zusammengestellte Beispiele gibt, kann man aus verschiedenen Blickwinkeln schauen, aber es ist absolut unstrittig, dass dies die Legitimation montenegrinischer Studien nicht nur in den Philologien des štokavischen Sprachraums, sondern auch in der Slavistik insgesamt unterstreicht. Jeder wohlmeinende Leser kann sich im Buch über die Abschnitte der historischen und kulturellen Geschichte der montenegrinischen Sprache und im weitesten Sinne der montenegrinischen Kultur, Tradition und Spiritualität sowie die wichtigsten Gelehrten im In- und Ausland informieren.