1.


Der Konzertflügel seiner Großmutter bildet den Mittelpunkt des Hauses in der Provence. Eine Stufe tiefer befindet sich der Kamin, links das Esszimmer, rechts die dunkelbraune Wohnzimmergarnitur und die Bibliothek. Unter den Büchern befindet sich auch ein Fotoalbum. Gemeinsam stöbern wir darin. Wir stoßen auf ein Foto seiner Mutter, die nackt am Bug des Schiffes liegt. Völlig ruhig sagt er: »Das ist Mutter. Sie war wunderschön, als sie jung war.«

2.


Er ist zu Hause ausgezogen, doch seine Bücher hat er nicht mitgenommen. Nach der Arbeit ging ich bei ihm vorbei und sah etwa zehn Bücher auf dem Tisch liegen. Sein Freund, der Dichter, versorgte ihn mit neuen Titeln, die legeren langärmligen Baumwollshirts und den Cognac hatte dieser Dichterfreund wiederum der Finanzierung seiner Mutter zu verdanken. Das erste Buch hieß »Mösen«. »Mösen?« »Ja, klar. Das hab ich auch genommen. Es ist gut. Die erste Geschichte handelt von einer warmen Zigeunerinnenmöse. Warte, ich lese sie dir vor.« Meine Magensäure und ich lauschen der Geschichte.

3.


»Wir lebten in der Nähe des Theaters Zetski dom. Ich warf stets einen Blick auf das Dach nebenan: Wenn es nass war, blieb ich zu Hause, wenn es trocken war, ging ich spielen. Im Regal stand nur je ein Band von Tolstoi und Dostojewski, andere Kulturen kannte ich nicht.«

4.

Ein Fünfzehn-Quadratmeter-Zimmer in New York für neunhundert Dollar im Monat. Zwei hohe, weiße Regale mit Büchern über Fotografie. »Ich habe keine Zeit, sie zu lesen, ich sammle sie.«

5.

Die leeren Glasregale sind sorgfältig entstaubt worden. Nur in der Ecke eines liegen Autoschlüssel, am anderen Ende steht der einzige Titel: »Danica«. So heißt die Tochter.

6.

Ihre Teller sind schwarz. Der Teppich ist schwarz. Die Regale sind schwarz. Die Bücher unberührt. Die Vorhänge dick. Der Abfluss in der Spüle verstopft. Die Absätze sind poliert. Die Schublade ist voll mit kreischbuntem Nagellack.

7.

Ich nehme den Zug von Antwerpen nach Brüssel. In Brüssel fahre ich mit der U-Bahn und erreiche schließlich den Buchladen. Ich gehe hinein. Der Innenraum ist unterhaltsam, lenkt aber von den Büchern ab. Ich schaue mich um und entdecke Stiglitz, Guillevic und Michaux, alle auf Französisch. Ich drücke sie fest an mich, beschnuppere sie. An der Kasse zahle ich und erhalte eine dicke, transparente Tüte. Ich kann mir die Bücher bereits in meiner Bibliothek, im Bett, auf dem Boden vorstellen. Mit der U-Bahn kehre ich zum Hauptbahnhof zurück. Bevor ich nach Antwerpen zurückkehre, werde ich mich dort mit einem ehemaligen Kollegen der Europäischen Kommission treffen, einem Intellektuellen in hoher Position. Wir haben noch nicht einmal Kaffee bestellt, doch ich kann meine Begeisterung nicht verbergen und zeige ihm ein Buch nach dem anderen. Er antwortet: »Danke dir, danke dir.«

8.

Ich würde gern ein Buch von Fromm aus Großvaters Bibliothek nehmen. Ich weiß nicht, wen ich fragen soll. Großvater ist gestorben. Großmutter redet jetzt.

9.


Aus Paris habe ich schon alles mitgenommen, nur ein Koffer mit Büchern ist noch übrig. Ich nehme ihn und schleife ihn mit der U-Bahn zum Gare de Lyon. Ich komme mit dem Zug, teilte ich ihm mit. Wir verabredeten uns auf einen Kaffee am Bahnhof. Immer wenn er auf mich wartete, hatte ich mindestens einen Koffer dabei, und das nervte ihn. Er hatte das Gefühl, dass er eine Durchgangsstation war, er glaubte nicht, dass er mein wichtigster Ein- und Ausgang war. Ich steige aus dem Zug. Zum ersten Mal seit drei Jahren sehen wir uns wieder. Das Erste, was er zu mir sagt, ist: »Du hast das Parfüm gewechselt.«

10.

Sie ist leicht bucklig geworden und hat an Umfang zugelegt; sie ist jetzt eher still als gesprächig; sie kratzt sich unwillkürlich an der Daumenkante und hat ihre Nägel schon lange nicht mehr rot lackiert; im Umgang mit Menschen ist sie vorsichtig und nahezu verkrampft; sie sitzt lieber und schaut aus dem Fenster, als sich die Vorteile dieser und jener Kreditkarte erklären zu lassen. Ihre Freunde und Verwandten werden laut; wütend fragen sie, warum sie nicht mehr Selbstwertgefühl hat; sie halten ihr »Du-solltest«-Reden; sie drängen sie, ein Popkonzert zu besuchen; sie kritisieren sie, weil ihre Privatbibliothek verstaubt ist. Sie möchte gern umarmt werden … für mehr als eine Sekunde. Sie möchte, dass man ihr sagt, dass ihre Oberlippe schön ist, wenn sie lacht; sie möchte verstanden werden dafür, dass sie manchmal auf Lasten stößt, die schwerer sind als sie selbst; sie möchte gesagt bekommen, dass nur sie dieses Detail in dem zerkratzten Fahrstuhl bemerkt; sie möchte mit auf diese besondere Terrasse genommen werden, auch wenn sie keine Lust hat, Brille zu tragen; sie möchte, dass man ihr vertraut, weil sie am besten weiß, wie man das Schwarze im Keller wegbekommt. Aber das wird nicht passieren. Sie ist allein da unten. Sie schrubbt. Sauberer Estrich schimmert durch.

11.

Ins Haus wurde schon ein paarmal eingebrochen. Bisher hat keiner die Bibliothek angerührt, aber diesmal sind zwei Ausgaben des Bergkranz in Ledereinband verschwunden. Die alten Rezepte aus Budva sind noch da, wer sollte einen Gefrierbeutel voller vergilbter Zettel klauen. Ich öffne ihn und lese, ohne auf die Kochanleitungen zu achten, ich achte nur auf die Sprache und die Maßeinheiten. »Geraspelte Zitronenschale«, »ein Bund Petersilie«, »zwei Spitzen Knoblauch«, »anderthalb Viertelliter Milch«, »ein Fingerbreit Öl«, »alles vermischen und … machen«. Ich habe beschlossen, die Torte »Umberto« zu backen. Ich mag es, wie Mehl sich anfühlt und wie Vanille riecht. Ich weiß nicht, ob ich wegen der Berührung Kuchen backe oder zum Trost. Die Torte ist fertig. Er will nicht probieren, er isst keinen weißen Zucker. Sie auch nicht, sie isst kein weißes Mehl. Sie dürfen nicht, sie essen kein Fett. Der unberührte Tortenboden wird langsam hart.

12.

»Sie ist Diplomatin, da kann sie ja schlecht ihre Bücher zu jedem Auslandsposten mitnehmen. Ich hab sie in der ganzen Wohnung … Übrigens kann ich eine Frau nicht ficken, wenn ich sehe, dass sie keine Bibliothek hat.«

13.

»Ich weiß, dass ihr gerade erst eingezogen seid, aber da du Schriftsteller bist, finde ich es merkwürdig, dass ich hier kein einziges Bücherregal sehe.« »Ich will Bücherregale anfertigen lassen, richtig schöne, verglaste, wo die Bücher gut aufbewahrt sind. Nicht einfach gewöhnliches Sperrholz. Bücher verdienen es, ordentlich aufbewahrt und ausgestellt zu werden. Aber momentan habe ich dafür kein Geld, das ist teuer.« »Wo sind sie denn jetzt?« »In Plastiktüten, im Keller.«

14.

Ich habe den Staub von den Sohlen entfernt, Wildleder wurde irgendwann zu rutschig. Jetzt waren sie bereit für die Tanzfläche des Studentischen Kulturzentrums. Ich packte auch ein Paar dieser seltsamen, sackartigen engen Hosen ein, die perfekt für Tango sind. Sie geben mehr Freiheit in den Hüften und lassen die Füße sichtbar, bereit für die schnellen Bewegungen der Sacada. Ich kam an und ging direkt in den Saal, wo der Workshop stattfand. Danach würde ich bei meinem Patenonkel übernachten. Ich war sicher, dass es um eins vorbei sein würde. Wir tanzten bis sieben Uhr morgens. Ich zog meine Chucks an. In der einen Hand trug ich eine Leinentasche mit meinen High Heels, in der anderen meine Tasche. Ich spürte jede Unebenheit unter meinen Füßen. Die Belgrader eilten zur Arbeit. Wir machen uns langsam auf den Weg zu unseren Paten oder Freunden, zu gemieteten Zimmern oder Wohnungen von Liebhabern. Ich trete ein, und ein ordentlich gemachtes Doppelbett erwartet mich. Mein Patenonkel und seine Frau hatten auf der Couch übernachtet. Ich konnte nicht einschlafen, da ich noch bebte von der Geige und den Umarmungen. Deshalb dachte ich daran, mir eins ihrer Bücher zu nehmen – es würde mich beruhigen –, doch ich sah nirgends Bücher. Ich rief meine Patentante an und fragte: »Wo sind denn deine ganzen Bücher? Ich würde gerne etwas lesen.« »Wir verstecken sie. Sie werden immer gestohlen. Im Aschenbecher findest du einen Schlüssel. Der Bücherschrank ist auf dem Dachboden.«

15.

Den kürzeren Bademantel behalte ich. Den längeren bekommt er. Die Hausschuhe Größe 39 stelle ich in den Schuhschrank. Die 43er kriegt er. Was mache ich mit den Bildern? Ich weiß es nicht. Die Kerzenständer bleiben bei mir. Alles von Miles Davis kriegt er. Weingläser – hierher. Das norwegische Messer – dorthin. Stoffbeutel mit Lavendel – in den Schrank. Krawatte – in den Koffer. Der Globus – meiner. Die Gliederpuppe – seine. Die Blumen – ans Fenster. Der Töpferton – in den Koffer. Die Bibliothek. Carver bleibt bei mir. Kotler geht zu ihm. Ich kann die Sinnlosigkeit riechen. In der Nähe ist ein Müllcontainer. Ich werfe die dritte Tour weg. Der Globus kommt aufs Fahrrad.

16.

Wie ein Archäologe in einem verlassenen Haus greife ich zu einem Buch über Elena von Savoyen. Aus der Widmung kann ich ersehen, dass es ein Geschenk an jemanden war, das meiner Mutter zurückgegeben wurde, denn sie war selbst am meisten daran interessiert. Zwischen den Büchern auf dem Bücherregal befindet sich eine Keramikskulptur, die an die Arbeit von Claudel erinnert, ein Stück altes Silber und einige Bilderrahmen aus Messing. Im Schrank liegen Pelzmäntel, Seidenschals aus Lyon, weiße Strickwolle mit dem Etikett ‘Tetovo, Jugoslawien’ und ein kaputtes Radio. Sie hat mir über keinen dieser Gegenstände eine Geschichte erzählt, ich konnte nur die Eleganz in ihrem Aussehen und ihrer Bewegung sowie ihr ängstliches Schweigen spüren. Mutter ist gestorben. Ich muss entscheiden, was ich wegwerfe und was ich behalte.