Foto: Anastasija Kostić
Aus: Olja Knežević: Katarina die Große und die Kleine eta Verlag, 2022
übersetzt von Elvira Veselinović
RUMS! Ein Fiepen, dann ein Beben. Stuhlgeklapper auf Fliesenboden.
Enisa rennt zum Eingang des Salons, zur bebenden Schaufensterscheibe.
»Jetzt ist auch offiziell Sommer«, verkündet sie.
»Drei Explosionen in einer Woche. Die Hitze steigt ihnen zu Kopf. Die Zündschnur wird immer kürzer.«
Denn: Etwa fünfzig Meter vom Salon ist, in der allergrößten Nachmittagshitze, etwas explodiert. Etwas Großes.
Wir rennen raus auf die Straße, kurz zuvor haben wir noch zu viert oder fünft im Schutz der Klimaanlage Eiskaffee getrunken.
Ein Auto brennt, das Dach ist aufgegangen wie der Deckel einer Konservendose.
Schreiende Menschen. Schreiende Mütter.
»Mein Kind, mein Kiiiiiiind!«
Eine junge Frau ist im Auto eingeklemmt, sie klebt am Sitz und schreit ebenfalls.
»Aaaaaaaa, aaaaa«, sie ruft niemanden, sie schreit einfach nur, der Anblick dieser Höllenqualen lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
»Aaaaaaaa, neeeeeeein, Auuuuuua, ooooooojeee!!!«
Ich schnappe mir das Telefon, rufe die Feuerwehr an und die Polizei.
Das Feuer zerteilt sich in mehrere Flammen, wie Menschen, die sich trennen, ihrer Wege gehen,
an der heißen Luft wie an einem Seil emporklettern oder desinteressiert und ziellos ihren Gang fortsetzen.
Die junge Frau wird im Strahl der Feuerwehrschläuche durch Aufschneiden der Karosserie gerettet,
für den jungen Mann kommt jede Hilfe zu spät.
Seine Beine liegen auf der anderen Straßenseite.
Er ist innerhalb einer Minute verblutet, noch bevor er verbrennen konnte.
»Das Blut kocht, sie kriegen den Hals nie voll«, folgert jemand.
»Und wie viele von uns kommen hier noch um, die es einfach zufällig trifft? Das halbe Land?«
Ich stehe am Eingang zum Salon.
Ich passe auf die Kasse auf, als wäre ich wieder dreizehn Jahre alt und hütete meine Einnahmen vom Eisverkauf,
doch jetzt habe ich ein Telefon in der Hand und auf mich ist eine Kamera gerichtet.
»Sie haben angerufen, um die Explosion zu melden?«, fragt mich die Journalistin und wartet meine Antwort gar nicht erst ab.
»Könnten Sie uns kurz schildern, was geschehen ist und wie?«
»Warum tötet ihr euch gegenseitig?«, frage ich, während ich sie anschaue.
Ich bin so verschreckt wie verzweifelt und klinge dennoch arrogant.
Die junge Journalistin zuckt die Schultern.
Ich wende meinen Blick zur Kamera und wiederhole die Frage.
»Warum tötet, mordet und massakriert ihr euch gegenseitig?
Lauert euch im Dunkeln auf, um euch hinterrücks zu erschießen?
Schon seit Langem. Schon als ich noch klein war.«
»Haben Sie Details …?«
»Details? Zusätzlich zu diesem Feuer und den Schmerzensschreien, meinen Sie?
Wieso sollte ich über alles hier Bescheid wissen, obwohl ich gestern erst angekommen bin?
Das ist ja wohl klar wie Kloßbrühe.«
»Könnten Sie ein bisschen …«
»Das ist alles eindeutig die Handschrift, so sagt man das wohl jetzt, die Handschrift der Droge.
Explosionen, kochendes Blut, von wem auch immer;
wer auch immer vor Ort ist, kriegt die Kugel oder fliegt in die Luft. Zu unserem ohnehin aggressiven natürlichen Zustand kommt noch das aggressive Pulver hinzu. Ich würde hier mal ordentlich saubermachen.«
»Wie meinen Sie das, saubermachen?«
»Na ja, wie einen Fisch«, beginne ich, dann halte ich inne, ich weiß nicht genau, ob man den Fisch wirklich vom Kopf her putzt, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich bin so wütend, dass mir der Ausdruck mit dem Fisch nicht mehr einfällt, in meiner Wut bin ich bemüht, keinen Fehler zu machen, stattdessen stampfe ich nur mit dem Absatz meiner Sandale auf den Asphalt und spucke aus. Ich spucke! Die Crew ist jetzt genauso verdattert wie ich. Ich habe wohl viel anständiger auf sie gewirkt. Eine frisch geföhnte Dame. Jetzt denken sie wahrscheinlich, ich sei auch auf diesem »aggressiven Pulver«.
Die Sonne aus dem Westen blendet mich. Ich halte mir die Hand mit dem Handy als Schild vor die Stirn. »Das ist passiert«, sage ich zu der Journalistin. »Es passiert seit den Neunzigern und wird nicht aufhören, bis wir uns alle gegenseitig abgemetzelt haben«.
Dann kommt die Rettung. Ich sehe Siniša. Ich weiß, dass er es ist, sein Gang ist noch der gleiche.
»Sonne sinkt
Dem Sonnenkönig sei alles verziehen.
Hinter ihm Dunkelheit.«
Diese Worte würden völlig ausreichen, es war einer dieser Haiku-Momente, obwohl ich das Bedürfnis habe, ganze Seiten vollzuschreiben. Worte können täuschen. Ich streiche sie durch. Hinter seinem Rücken verliert die Welt ihren Glanz, da er ihr keine Bedeutung beimisst. Ich sehe das, denn er ist mein Sonnenkönig, während er für den Rest der Welt wahrscheinlich einfach ein weiterer gut erhaltener Mann mittleren Alters ist.
Die Flammen werden von den Feuerwehrschläuchen beruhigt, wie auf einer Bühne stehe ich vor dem Salon, der einen Namen aus dem vorigen Jahrhundert trägt: .Enisa..
Hier habe ich einmal Haare zusammengekehrt, die ich zuvor gewaschen und schamponiert hatte. Nach mehr als dreißig Jahren bin ich wieder am selben Ort. Keine besonders beeindruckende Szene für eine Wiederbegegnung. Ich werde nicht einknicken, während er seelenruhig lächelt und durch die Hölle unserer Heimatstadt auf mich zugeht.
Der erste Tag nach einer Million getrennter Tage, durch das Feuer sprechen wir im Haiku-Rhythmus, denn welchen Rhythmus sollten wir auch wählen für unsere Worte, außer den wesentlichen und dennoch kontrollierten, vom Qualm erstickten Erinnerungen und Fragen?
»Du bist wirklich gekommen«, sagt er, während er mich umarmt.
Sieben Silben und eine Umarmung, die mich endlich nach Hause zurückholt.
»Du weißt, dass meine …«, antworte ich, fünf Silben und seine Schulter.
»Ich weiß. Bleibst du länger hier?« Sieben.
»Bis etwas passiert.«
»Entschuldige für alles.«
»Keine Ahnung, was denn alles?«
Die Menschen um uns herum kreischen oder brüllen Befehle, je nach ihrer Rolle in dieser Tragödie. Wir beide stehen da und schauen uns an: Unsere Auren sind orangefarben. Wohin ist Enisa verschwunden? Im Salon muss die Kasse abgeschlossen werden, ich muss meine Tasche holen, meine Sonnenbrille, den Angestellten winken; die sollen sehen, wie sie klarkommen mit ihren Sachen und ihren Kunden, und dann tschüss, man sieht sich; dann noch Sergio winken – als er Siniša und mich zusammen sieht, legt er die Handflächen wie zum Gebet zusammen.
Und einfach so, wie früher, gehen wir zu Sinišas Auto, während um uns herum alles den Sinn verliert, Mütter ihre Kinder verlieren. Ich weiß, dass er zum Meer fahren wird, um möglichst lange unterwegs zu sein, unsere gemeinsamen Fahrten waren immer eine Art Tonikum. In seinem Auto ist es angenehm, auch ohne Klimaanlage, er hat die Fenster geöffnet. Mein Haar flattert im Wind, an seinen Unterarmen glänzen goldene Härchen. Am liebsten würde ich ihn auf der Stelle küssen. Seine Haare changieren zwischen goldrot und grau: Er sieht aus wie ein moderner Kalifornier im Urlaub, was er auch ist. Wir sagen nichts. Wir beschnuppern uns, nachdem wir von dem Flammeninferno weg sind, immer näher an der kühlenden Luft von Cetinje, und dann der salzigen, mit Blick auf das Blau. Ein kleines, durchgeknalltes Land. Wir entkommen ihm, verstreuen uns in der weiten Welt und finden uns dann doch in diesem Loch wieder.
Ich traue mich, Sinišas Hüften und Knie anzuschauen, seine Hand am Lenkrad und sein Profil. Die tiefe Falte, die das Lachen auf seine Wange zaubert. Die übrigen winzigen Falten. Während er am Lenkrad dreht, schaut er mich an. Ich berühre seinen Unterarm mit der Hand: die Härchen kitzeln mich. Ich bin erregt, aber nur kurz, denn aus dem Glücksmoment werde ich genauso schnell wieder herausgeschleudert wie aus einer scharfen Kurve.
Wo mögen meine Kinder wohl jetzt sein?
Wie spät es wohl bei ihnen ist? Es ist, als trennten uns ganze Ozeane. Längst habe ich die klare Vorstellung davon verloren, wo sie sind und was sie machen. Skype hat mir vorgetäuscht, ich sei in greifbarer Nähe für sie geblieben. Doch Mütter verlieren Kinder bei Explosionen, selbst wenn sie nur fünfzig Meter von ihnen entfernt sind. Ich hatte meine eigentlich für zwei-drei Tage allein gelassen, doch nun sind es schon fünfzehn. Ihrem Vater sind sie auch völlig egal, der hat sich auf mich eingeschossen, ich sei die Hauptschuldige an allem, sagt er den Kindern, und auch mir, wenn er mich auf dem Bildschirm ihrer Computer erblickt. »Da ist sie ja, eure schlechte Mutter, die verantwortungslose, verrückte. Obendrein noch eifersüchtig«. Ich würde ihn beschuldigen, wiederholt er ständig, weil ich die gewalttätige Depressive sei.
Und unsere Kinder seien jetzt wie streunende Hunde auf einer Fernstraße. Jeder könne sie mitnehmen oder überfahren.
»Bitte«, sage ich zu Siniša, »halt an der nächsten Haltebucht an. Mir ist schlecht«.
Siniša hält an. Ich springe aus dem Auto und kotze in die Büsche, die trotzig am Rand des Abgrunds Richtung Meer wachsen. Wenn ich mich verschluckte und das Gleichgewicht verlöre, könnte ich in die Tiefe stürzen, an diesem Tag der Begegnungen und der Tode. Siniša hat eine Wasserflasche im Auto. Ich wasche mir die Hände und das Gesicht. Da ich immer Parfüm bei mir in der Handtasche habe, sprühe ich mir was davon aufs Gesicht, die Haare, auch ein wenig in den Mund, ohne dass er es sieht, doch er hat es gesehen und lacht.
»Hundert Jahre«, sagt er, und muss gar nicht weitersprechen.