In dieser Klinik war ich bisher nur einmal im Leben, vor fast dreißig Jahren, als ich meine Mutter nach einer Operation besuchte. Ich erinnere mich an ihr lächelndes Gesicht und weiß noch genau, wie ich dieses Lächeln als Garantie dafür nahm, dass alles in Ordnung war. Eigentlich habe ich ihr auch nicht viele Fragen gestellt. Einem lächelnden Menschen muss es einfach gut gehen. Ich erinnere mich, dass sie noch Jahre später regelmäßig erzählte, wie meine damalige Freundin – und zukünftige Frau – und ich uns auf dem Flur geküsst haben. Nur die Jugend besitzt diese Lässigkeit ohne jeden Gegenwert. Für junge Menschen ist Endlichkeit ein weit entfernter Begriff. An den Rest erinnere ich mich nicht.
Dies war ein typischer Morgen des nahenden Sommers. Es regnete häufig und launenhaft.
Vor der Klinik ist Verkehrsstau, die Parkplatzsituation ist problematisch. Heutzutage sorgt man wohl nur noch in Einkaufszentren, dieser geballten Sinnlosigkeit der Neuzeit, für ausreichend Parkplätze. Mitten im Gewühl, Gerenne und Gehupe stellt ein Mann einen Pappkarton auf. Mit eingespielten Bewegungen holt er Gegenstände aus einer Plastiktüte und reiht sie auf: Fieberthermometer, Regenschirme, Feuerzeuge und Heiligenbildchen. Er hebt einen der Heiligen in meine Richtung. Danke, sage ich und winke ab.
Ich suche den Teil der Klinik, in dem die präoperative Triage durchgeführt wird. In meinem Kopf konstruiere ich die Ernsthaftigkeit des Vorgangs, den das Wort Triage ausstrahlt. Es wird sich als banaler Papierkram herausstellen, der in einem zeltartigen Raum hinter dem Hauptgebäude stattfindet und von angehenden Ärzten erledigt wird, die derzeit nur Arztanwärter sind. Wofür brauchen Sie eine Überweisung? – Onkologie, Operation. – Oje. Bitte schön.
Links vom Haupteingang befindet sich eine riesige Kapelle. Eine echte, wahrhaftige Kapelle. Ich kann mich nicht erinnern, es ist zu lange her, aber ich glaube, sie war noch nicht da, als ich damals hier war. Als mir alles anders vorkam, irgendwie weniger grau und weniger schwer.
Ich gehe die Treppe hoch. Zwischen Erdgeschoss und dem ersten Stock ist die gesamte Wand aus Glas, darauf befindet sich ein abgeblättertes Buntglasfenster. Wie bei Chagall dominieren Blau und Gelb. Im selben Moment fällt mir das größte Chagall-Gemälde ein, das ich vor langer Zeit in der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence oberhalb von Nizza gesehen habe. Es heißt La Vie. Leben. Ein wohlhabendes Pariser Ehepaar hatte inmitten des Pinienwalds und rauschender Wasserfälle eine imposante Galerie erbauen lassen, in der Chagall, Giacometti, Miró, Picasso und andere große Namen ausgestellt wurden. Machen Sie hier etwas, das sich finanziell nicht lohnt, aber uns Künstlern ermöglicht, Skulpturen und Gemälde im bestmöglichen Licht und im bestmöglichen Raum auszustellen. Tun Sie dies und ich werde Ihnen helfen, hatte Georges Braque zu ihnen gesagt. In Saint-Paul-de-Vence selbst gibt es ein Restaurant mit Werken der Großen Meister an den Wänden. Sie verstanden es, sich zu betrinken, also zahlten sie die Zeche nicht mit Geld, sondern mit ihrer Kunst. Zu diesem Zeitpunkt konnten die Besitzer der Kneipe noch nicht ahnen, welchen Wert diese Werke einmal haben würden.
Wert. Wie sehr doch der Begriff Wert in einem Krankenhaus Form und Farbe ändert.
Im Wartezimmer ist es zu eng. Nirgendwo sehe ich ein Lächeln. Es ist lange her, ja, oder lächelten die Menschen früher einfach mehr? Oder auch nicht? Ich weiß es nicht mehr.
Die Gesunderen sind frecher, ungeduldiger und trauen sich mehr, drängeln sich vor oder meckern. Die, denen es schlechter geht, sind ruhiger, sie finden sich mit allem ab und schauen irgendwo in die Ferne. Manche erwischen mit dem Blick auch das Buntglasfenster, ich weiß nicht, ob sie eher die Farbe wahrnehmen oder den abgeblätterten Teil in Richtung Sonne.
Die alte Frau neben mir ist allwissend und geizt nicht mit Ratschlägen, sowohl zur Art des Krebses als auch, wie er zu behandeln sei oder zu welchem Arzt man gehen müsse, wie man sich dafür revanchieren solle, besonders präzise beschreibt sie, zu welchem Zeitpunkt dies zu geschehen habe. Sie weiß genau, welcher Chirurg gut ist und welcher schlecht. Gute Frau, was reden Sie denn da, das ist alles Humbug, der Mensch war schon auf dem Mond, und sie reden hier so ein dummes Zeug. – Mein Kind, wer soll denn auf dem Mond gewesen sein, erzähl doch keinen Blödsinn!
Eine große Glastür führt in den Teil, in dem die Chemotherapie verabreicht wird. An der Tür kleben Heiligenbildchen. Sie öffnet sich, ein Ehepaar mit einer etwa zehnjährigen Tochter geht hindurch. Ihre Gesichter sind ruhig, wie die von Menschen, die entschlossen sind, etwas anzuschieben. Das Mädchen ist groß, dünn und sehr müde. Auf eine graue Weise müde. Ihre Haare wachsen gerade wieder und sind unregelmäßig über den Kopf verteilt.
Schon zum zweiten Mal an diesem Morgen kommt eine Krankenschwester aus einem der Zimmer mit der Bitte, wir alle vom Flur, und wir sind ziemlich viele, mögen uns vorübergehend in einen anderen Teil des Gebäudes begeben. Erst jetzt, beim zweiten Mal, wird mir klar, dass da gerade ein mit einem Laken bedeckter Toter zu einem nahegelegenen Aufzug transportiert wird.
Neunzig Prozent aller Wartenden sind Frauen. Sie sind meist allein. Manche mit Traurigkeit im Blick, manche selbstbewusst und gepflegt, ihre weichen Haare, die gerade erst sprießen, frisch frisiert. Eine ist sehr gesprächig. Hinter vorgehaltener Hand rät sie mir, beim Entleeren der Drainage gut aufzupassen, denn wenn die den einen Stöpsel nicht richtig zudrehen, geht der Schmutz durch, so hat sie sich eine Infektion zugezogen. Eine erstaunliche Energie geht von ihr aus. Dies ist schon das dritte Mal, dass ihr Krebs zurückgekehrt ist. Aber sie hat keinen Zweifel, sie weiß, dass sie den Kampf gewinnen wird. Wie hat alles angefangen, wie haben Sie es erfahren? – Das muss ich Ihnen sagen: Ich habe geträumt, dass ich zum Heiligen Basilius gehen muss, und das habe ich am nächsten Tag getan. Und er, nur er, zeigte mir genau, in welcher Brust der Krebs war, während ich betete.
Ich schweige und lasse sie reden.
Ein Chirurg, frisch aus dem Urlaub zurück, sonnengebräunt und gutaussehend, bewegt sich hastig durch die Menschenmenge im Flur. Er wendet sich an die Roma-Frau, die Lärm macht und schreit.
Was brauchen Sie? – Mann, ist das hier die Kinderheilkunde gegen Krebs? – Wer hat Krebs, ein Kind? – Ja, mein Kind. Sie schicken mich hier den ganzen Tag auf und ab, ich weiß schon nicht mehr, wohin ich gehen soll, Mann. – Wie alt ist das Kind? – Zweiundzwanzig. – Okay, okay, es ist kein Kind, aber das ist hier, du bist am richtigen Ort.
Der fesche Chirurg dreht sich um und geht weg. Die Roma-Frau klopft an die nächste Tür. Sie wird abgewiesen. Nach ein paar Minuten kommt ein junger Mann die Treppe hoch. Ihr Sohn. Der Zweiundzwanzigjährige. Er öffnet die Tür und sagt: Alter, wer hat hier meine Mutter abgewiesen, hä? Mal hören!
Aus dem Zimmer rechts kommt eine Familie heraus. Sie weint. Sie weint das tiefe Weinen, das nur ein von der Angst gebrochenes Wesen weinen kann. Sohn, Mann und Vater traben ihr schweigend hinterher.
Eine Frau um die Dreißig holt ihre Befunde am Tresen ab. Rennt ihrem Mann entgegen. Sie weint. Sie weint das Weinen eines von der Angst befreiten Menschen. Ich habe gewonnen, ich habe gewonnen. Sie hängt sich um seinen Hals und umarmt ihn fest. Es war das letzte Lächeln dieses Tages.
Sie schicken mich in einen anderen Teil des Gebäudes. Da ich offensichtlich nicht den richtigen Teil der Klinik gefunden habe, stoße ich auf eine Frau im Rollstuhl, ohne Beine, sie ist ganz eingewickelt in Drainageschläuche und raucht. Neben ihr ein altes, ausrangiertes Operationsbett und ein Münztelefon, Relikte aus einer anderen Zeit. Die Tür ist hinter ihr zugefallen, sie kommt jetzt nicht wieder rein. Sie inhaliert den Rauch, als wäre es ihr letzter. Sie tut es auf jene Art und Weise, auf die wir etwas angesichts der Endgültigkeit tun, wenn wir ohnehin keine Wahl mehr haben.
Der Tag ist noch immer nicht vorbei, doch es werden schon alle Vorkehrungen für die Nacht getroffen. Tag und Nacht haben im Krankenhaus verschiedene Rhythmen. Neben mir im Zimmer sind noch drei Personen: der ehemalige Chef einer großen Firma, ein Tennistrainer und ein Ingenieur.
Unfassbar, dass hier auf der Onkologie solche Zustände herrschen, aber dort werden Millionen für eine Kirche ausgegeben. Das ist gegen jeden gesunden Menschenverstand.
Niemand antwortet, komplette Stille, obwohl bis eben noch alle eifrig geplaudert haben. Die Lichter gehen aus, es ist Zeit, schlafen zu gehen. Wie auf Kommando ertönt plötzlich ein Rascheln. Durch die Dunkelheit erkenne ich Bewegungen. Meine Gesprächspartner und Mitstreiter holen ihre Heiligen aus den Tüten und stellen sie sorgfältig auf dem Metall-Nachtschränkchen auf. Manche einen, manche sogar drei.
In der Stille, von der die Klinik überflügelt wird, setze ich Kopfhörer auf und kehre zu meinem Hörbuch zurück.
Dabei wende ich mich an einen Gott, der noch nicht erfunden wurde.