Alles hängt davon ab

wie lang wir immer sein werden.

Liebe,Ewa Lipska[1]

Sie brauchte nicht viel, um glücklich zu sein: Porridge und Bimsstein für ihre Fersen, das war alles. Doch hätte womöglich, wie neulich in Larissa, ein kleiner herzförmiger Griff am Reißverschluss ihres Rucksacks dem Druck nachgegeben, hätte sich herausgestellt, dass das Leben – der Anzahl verschiedener Werkzeuge nach zu urteilen, mit dem sie es herausforderte – nichts weiter war als ein Wechsel an Gewissheiten und Überraschungen, wodurch das Bedürfnis nach ersteren zu einer Abhängigkeit wurde. In Tokio sorgte sie sich länger als sonst (was, wie man behauptete, einem Landei aus Kokoszkowy nicht übel zu nehmen war), genauer gesagt öfter und intensiver, als wenn ihr Portemonnaie, das sie noch am Flughafen Haneda verloren hatte, jemand anders gehört hätte, und deshalb erstarrte sie, sobald es ihr in ihrer neurasthenischen Routine so vorkam, als hätte sie schon lange nicht mehr daran gedacht. Das Portemonnaie, aber vergessen wir nicht, dass es, gemäß dem persönlichen Konzept der Unersetzbarkeit, auch ein Telefon hätte sein können, ein Mikrostress der, indem er das Blut mit Adrenalin versorgte, der Existenz ihren Sinn verlieh und das Herumwühlen in Innenfächern weniger unangenehm machte, obwohl diese Erregung, selbst wenn sie stundenlang anhielt, nicht mit jener von vorhin zu messen war, als sie in Vorahnung dessen, dass sie sich schneiden würde, Pflaster dabeihatte.

Eigentlich hätte sie sofort vom Bahnhof Ikebukuro aufbrechen müssen, doch weil das Museum für moderne japanische Literatur in Komaba, wo anlässlich der Ankunft der Delegation des Polnischen Buchinstituts eine Feierlichkeit ausgerichtet wurde, nur ein paar Kilometer vom Bahnhof Shinjuku entfernt war, hatte sie sich ausgerechnet, mit etwas Geschick ganze 1300 Yen sparen zu können. Zuvor hatte sie wegen diskreter Erkundigungen nach den Teilnehmern – Duda, Dabrowsky, Kowalczyk und noch einer, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte ‒ schon zwei Züge nach Shibuya verpasst, was sie dazu verleitete, ungeplant ihren Notizblock zu zücken und ein paar Worte über unaufschiebbares Unbehagen, Strich, Przemysław zu notieren. Sie war darauf gefasst, die anderen – wie immer bei solchen Gelegenheiten – solidarisch um den Tisch verteilt anzutreffen, an dem für sie nie Platz war, es sei denn, sie war hartnäckig wie ein Korkenzieher, außerdem musste sie die Augen zudrücken, weil sie sowieso wegen dieser ganzen Höflichkeit schon fast aus den Augen blutete vor Peinlichkeit, nein-nein-nein, sagte einer von Ihnen, Ladys first, und sie würde sich hinsetzen, wohl bewusst, dass ein ergatterter Stuhl nicht zwischen Barmherzigkeit und Nachsicht unterschied. Auf einmal entschuldigten sie sich und standen einer nach dem anderen auf, in der Reihenfolge, in der ihre albernen Pflichten begannen, was, wenn man ein wenig darüber nachdachte, eher ein Verdienst für deren Ausdauer war als eine Strafe für ihr zweifaches Talent: zu schreiben und dennoch unverhältnismäßig wenig sie selbst zu sein.

Liebe Alle, schrieb sie in einer Rundmail, sollte ich es nicht schaffen – dann löschte sie es, weil sollte ich durch die besonderen Umstände verhindert sein einfach viel besser klang – liebe Alle, tatsächlich, wobei ihr trotz der Langeweile ein Stein vom Herzen fiel, als sie sah, dass keiner von ihnen gut genug aussah, um ihn eines zweiten Blickes zu würdigen, und deshalb seelenruhig das herzliche, das sich auf die Grüße bezog, wieder löschte, sobald sie einen Sitzplatz ergattert hatte. Als sie spürte, dass es langsam dunkel wurde, bemühte sie sich, sich auf das Zwergengebüsch zu fokussieren, das sich nach einer Geheimformel reduplizierte und darum bat, von ihr mitgenommen zu werden, aber wenn sich trotz ihres Widerstands ein strahlender Wolkenkratzer ins Blickfeld bohrte, schloss sie, anstatt sich um das Andauern dieser wohligen Trance zu bemühen, die Augen, als hätte sie durch einen zu kleinen Abstand zwischen Mikro und Lautsprecher mit ihrer Stimme jenes Fiepen verursacht, auf das alle mit Fluchen reagierten. Freude stellte für Tia eine Form der Beunruhigung dar, die ähnlich einer schlechten Nachricht den Nebensächlichkeiten Bedeutung verleiht, ein Konfetti gewordener Treffer, dessen einziger Sinn darin besteht, wiederholt zu werden: Riecht sie diese bei anderen, respektiert sie die geometrische Vorhersehbarkeit des Bordsteins, auf dem sie ihren Reifen treibt, noch viel mehr, ganz zu schweigen vom Genuss, hier ist alles im Voraus bekannt. Tokio wirkte daher auf sie wie ein potenter Liebhaber, bei dessen Anblick sie so tat, als würde sie die Stirn runzeln, doch das Interesse an ihm drang gegen ihren Willen durch Mund und Nase in sie ein wie ein Virus, mit Heiserkeit und viel Flüssigkeit, mit Hämatomen, die wie Vergissmeinnicht von der Schärfe des Unbekannten zeugten, der Eindruck, sie sei einseitig verliebt – wisse aber noch nicht, in wen.

Am liebsten würde ich mich auf einen Stein legen und mit Moos bewachsen lassen, notierte sie und befühlte, erschrocken vom plötzlichen Schließen der Automatiktür, gründlich ihren Pferdeschwanz; ihr Hinterkopf war ein Brunnen, ihr Haar ein Wasserstrahl, den einer sehr voreingenommenen Einschätzung zufolge der Tod fast auf Ex austrank. Aufgescheucht, als hätte ihr jemand mit einem Reflexhammer auf die Patellasehne geschlagen, erkundigte sie sich die ganze Strecke entlang bis an den Rand ihres Bewusstseins, wie diese schöne Umgebung sie entweder töten oder verkrüppeln könnte – eine nicht vollständig gelöschte Zigarette in einem Dutt, ein Fuß in einem schmalen Pantoffel zwischen zwei Schienen oder ein Tunnel, der es kaum erwarten konnte, dass die Dame aus dem Fenster spähte – und dann ließ sie noch nicht warmgelaufene Lexeme auf das mit Tabellen überzogene Blatt fallen: das Verb zerstückeln, das Adjektiv dispersiv, das Substantiv Fenstersims. Ihre Überzeugung, dass sich ein schreckliches Ende mit viel Blut, selbst wenn sie es wirklich wollte, nicht ändern würde, selbst wenn sie aufhörte, so intensiv darüber nachzudenken, trieb sie dazu, Einzelheiten über die Umstände, in denen sie sich befand, aufzuschreiben und sich in ihrer Haut fühlen zu lassen wie in einer brennenden Scheune, und blättert in einer halbleeren Gesundheitsakte, auf deren Rückseite Fettleibigkeit steht. In den Geschichten steht es geschrieben. Für Rückzug mit dem Ort zum Beispiel war sie letztes Jahr mit dem Szymborska-Preis ausgezeichnet worden, und selbst dann, als alles vollendet war, hielt sie es nicht für nötig, darüber nachzudenken, was mit ihrem Dichtergeschick passieren würde, wenn sie geheilt würde, obwohl ihr Körper ihr vor dem Zusammenbruch gesagt hatte, dass ein Schritt nach vorn sie den Kopf kosten würde; zur Strafe sah sie überall abgetrennte Hände hängen, mit Ringen, die sie nicht hatte.

Sobald ihr Pony fettig ist, muss Tia stottern, weshalb sie ihn auf die Schnelle mit Babypuder etwas zurechtmacht. Sie wird ihr Gepäck im Hotel lassen, ein Gläschen Shōchū runterkippen und sich ein wenig frischmachen, einfach um nicht auszusehen, als wäre sie gerade von einem Maultier gestiegen. Sie machte es sich bequem, vielleicht sogar ein bisschen zu bequem, wenn man bedachte, dass sie ja nur eine Stunde Zeit hatte, doch sie würde sich eher die Blöße geben, zu spät zu sein, als japanisch verfrüht, um dann drei oder vier Minuten wie eine Schnorrerin in einer geleckten Gesellschaft zu verbringen, in der sie sich trotz allgegenwärtiger Höflichkeit immer überflüssig gefühlt hat. Dies ist der Kreis des Vertrauens, ihr fiel ein, wie Daumen und Zeigefinger ihrer Mitbewohnerin mit ihren zusammengepressten Fingerkuppen die Einheit des Frauentrusts bewahrten, und du bist hier, fügte S. dann hinzu und streckte einen der Finger der anderen Hand aus, mit der Absicht, die Zuschauer zu beeindrucken, obwohl klar war, dass nichts die Natur von Tias Beziehung zur Welt so abbildete wie dieser kleine, vereinzelte Finger. Jedenfalls war sie in Narita abgestiegen, obwohl in den Formularen auf ihr Bestehen hin überall »Shibuya Creston Hotel« stand, was die Differenz des Erstattungsbetrags, dank ihrer Bereitschaft, zugunsten einer praktischeren Lösung auf Komfort zu verzichten, verdoppelte oder sogar verdreifachte. Zudem machte es sie stolz, nicht dem Drang nachgegeben zu haben, statt gewöhnlicher Taschentücher auf parfümierten zu bestehen, da ja beide den Rotz gleich gut wegwischten.

In ihrem Lampenfieber, das sie so halbwissenschaftlich als Anspannung beschrieb, lag manchmal eine notorische Abneigung gegenüber der Kleiderwahl, gegenüber dem, was die Garderobe zu ihrem Selbstbewusstsein beitrug – denn allein mit sich selbst schämte sie sich fast noch mehr, als wenn sie mit jemandem zusammen war. Seien wir ehrlich, mein Bauch ist zu dick, schoss es ihr durch den Kopf, wenn sie mit in die Luft gestreckten Beinen ihre Fitness einzuschätzen versuchte, doch dann dehnte sie sich, als übe sie eine Nummer ein, bis zu einer Stellung, in der sie so aussah, dass man ihr nichts hinzufügen und auch nichts wegnehmen wollte. Diesmal stellte sie sich den Wecker auf eine halbe Stunde, legte sich ein Handtuch unter die Wirbelsäule, machte eine Brücke und zog die hüfthohe Jeans runter, deren Nähte sich ins weiche Fleisch unterhalb ihres Bauchnabels eingeschnitten hatten: Dort war die Haut ein Quecksilber, das man locker um fünf Zentimeter nach oben ziehen konnte. Sie fand sich Auge in Auge mit einem Exemplar des Kusses wieder, aus dem – wenn nicht sofort, dann nachdem ihr der Querschnitt eines Kopfes ins Gesichtsfeld kam – statt Klimt der Dichter der verstreuten Eingeweide Shintaro Kago (obwohl, darüber würde sie morgen nachdenken, unklar war, warum er sich nicht als erster im Hotelzimmer eingefunden hatte). Die Profile der zwei uniformierten Mädchen waren nahezu identisch, eine von ihnen hing, da sie sehr klein war, auf dem Barhocker, was Tias Urteil nach eine ziemlich schlampige Ausführung der linearen Perspektive war. In ihren glühenden Gedanken hießen sie Rechts und Links; sie liebte beide, aber Rechts genoss den Kuss, während Links noch nicht einmal die Augen schloss. Links verstellte sich.

Wie immer, wenn sie ihre Klitoris berührte, wurde sie von einer heißen Welle aus Schuldgefühlen überschwappt. Sie erledigte es schnell, handwerklich, mit der Einstellung, man brauche für alles ein Taktgefühl, festgefahren in der Überzeugung, es sei dieselbe Art von Morgengymnastik, der sie zu verdanken hatte, dass ihre Schulter eingerenkt blieb, und natürlich des Wohlbefindens bewusst, weshalb sie das auch tun würde, wenn sie keine Befriedigung darin fände. Stets regelmäßige kreisende Bewegungen im Uhrzeigersinn, so wenig überzeugend wie die Farben eines Wobbelsenders, und obendrauf – fast wie Video-Überwachung – ihr Yogi-ähnlich geduldiges Gesicht mit Blick auf die Scham, eine kleine Töpferscheibe, auf dem feuchtes Gewebe solange geformt wird, bis es das ist, was von ihm erwartet wird. Fügt man dem hinzu, dass die Gestalten, die sie erregen, im Prinzip optimierte Hologramm-Projektionen sind, originalgetreue Repliken von Menschen mit gestutzten Krallen, die im Gegensatz zu ihren Prototypen nicht imstande waren, ihr Schmerz zuzufügen (zum Beispiel Mikołaj Ryba, genannt Goebbels, ein Regime-Schreiberling, dessen Kopf der sogenannte Gasboom war, ein Mann, der sie eine halbe Stunde, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, dass Stechapfel im Druck war, mit der Idee kontaktierte, die Lizenzgebühren zu teilen, und schlimmer noch war alles in allem lediglich die Tatsache, dass sie sie ihm tatsächlich auch gegeben hat), dann konnten die Dinge klarer nicht sein. Die dritte Hand, die warmen Kurvaturen, die ein anderer Mensch hatte, simulierte der Hilfsmittel-Körper, sein Unisex-Sekret, dessen sich Tia bis auf den heutigen Tag schämt.

Da die nahegelegene Baustelle nach Meinung des Taxifahrers nicht sein Problem war, wartete dieser in seinem orangefarbenen Taxi etwa hundert Meter vom vereinbarten Ort auf sie. Wie eine Eroberin ging sie auf ihn zu, wie ein Sturmgeschütz, nur durch einen Befehl vom Feuer getrennt, und brummte sich abwechselnd ‘Mutter’ und ‘Hund’ in den Kragen, aber nie das Wort, dessen Anwesenheit die zwei Genannten erst zu Schimpfwörtern gemacht hätte. Auf dem Armaturenbrett war zu lesen, dass der Fahrer Saburo hieß – ein schönes, muskulöses Gesicht, dem das omoiyari fehlte, denn sonst hätte er längst gemerkt, dass ihr der Windzug direkt ins Gesicht peitschte und sie kaum Luft bekam. Sie würde ihn fragen, wie er heißt und ob er in der Nähe lebt; er würde sagen, dass seine Eltern aus Nagoya seien und absichtlich hinzufügen, dass er mit seiner Ehefrau in Tokio lebe, dann würde sich das Funkgerät in ihre Unterhaltung einmischen und er würde vergessen, was er sie zu fragen gedacht hatte. Egal, sie würde das Bedürfnis verspüren, ihm etwas anzuvertrauen, was ihr an jenem Tag passiert war, ausgedacht oder zumindest übertrieben ausgeschmückt, um ihn dazu zu bringen, ihr Hilfe anzubieten, sodass sie, geschmeichelt, wie sehr er sich in ihre Situation hineinversetzt hatte, gar nicht anders konnte als abzulehnen. Zum Glück machte sie den Mund nicht auf, bis er sagte das macht 890 Yen (um Bitte sehr zu sagen), denn ihr sediertes Herz war sich unterdessen sicher, dass die beiden in einem Film bereits eine solche Unterhaltung geführt hatten.

Vor dem Museum war keine Menschenseele, und von außen konnte man auch keinerlei Beleuchtung sehen. Sie spähte unter die schwarzen Balken, die nahtlos in Grün übergangen, und summte ein einfaches Lied mit drei Akkorden, dessen tiefe Verwurzelung in ihrem Gedächtnis es gelegentlich in einen drahtlosen Lautsprecher verwandelte. Paradoxerweise kannte sie nur jedes vierte Wort, das idiotische Reimen von Blut und Flut, die nie endenden Zwänge, die ein so wichtiges, so verlässliches, so gut formuliertes Tageshoroskop hervorbrachten. Wassermann: Seien Sie scharfsinnig und zurückhaltend, denn jemand könnte das von Ihnen gesagte missverstehen. Der Schlüssel liegt im Erreichen des seelischen Gleichgewichts. Sie erreichte das obere Ende der Treppe und lauschte: noch immer war niemand da. Wie war das möglich? Vor Ihnen liegt ein Zeitraum der Ungewissheit – nicht alles, was Sie vorhaben, wird nach Plan verlaufen. Sie klopfte mit den Fingernägeln auf die Fensterscheibe, sanft und verzweifelt wie ein Welpe, und hoffte, dass jemand, ein Wachmann oder ein Einbrecher, seinen Finger auf dem Schalter hatte, den sie sehen, aber nicht erreichen konnte. Voller Angst vor dem Gedanken an einen Fehler, der sie den ganzen Weg hierher verschleppt hatte, sei es der eines anderen oder ihres eigenen, übersah sie beinahe den Staubsauger, die Gummihandschuhe, die Flasche mit Chlorbleiche und die Frau, die ihr ein Zeichen gab, einzutreten. Als sie schließlich herausfand, dass das Programm schon fünfzehn Minuten vor ihrer Ankunft zu Ende gewesen war, schaute sie zuerst auf die Uhr, dann auf den Ablaufplan und begann – wie früher, wenn der Schulunterricht verkürzt war und niemand sie abholen kam – untröstlich und herzhaft zu weinen.

*  *  *

Ganz versteinert wartete sie darauf, dass ihre Mutter zur Tür hereinkam. Wie ein Bakterium im Permafrost unterdrückte sie jede Bewegung, ihre Atmung verlangsamte sich bis zur Belastbarkeitsgrenze und der feine, ätzende Staub auf den Hornhäuten ihrer Augen, der sie ständig blinzeln ließ, störte sie nicht mehr. Sie würde nicht kapitulieren, selbst wenn die Mutter, mehr für sich selbst als ihretwegen, schon von der Tür aus losschreien würde: Was stellst du dich so an?, und selbst wenn sie zum x-ten Mal zu ihr käme, um sie zu schütteln und ihren Herzschlag zu überprüfen, aber ihr dann aus Angst, dass dies eines Tages berechtigt sein könnte, eine Ohrfeige knallte, die so heftig war, dass sie eine Zeit lang auf einem Ohr nichts hörte: Es war wie ein Kuss, der sie zum Aufwachen überredete und Schneewittchen vom Fluch befreite. Frau Chlebek, die bald wieder Nytz heißen würde, hatte tatsächlich ihr gegenüber keine anderen Sünden, als dass sie sich, ohne sie um Erlaubnis zu fragen, schnell einen Liebhaber zugelegt hatte, keinen Freund, nein, einen Liebhaber, den sie jeden Abend anrief, um elf, keine Minute früher, woraufhin Tia triumphierend zu dem Schluss kam, dass er verheiratet war. Alles in allem schien es, als hätte sie ihn ausgewählt, um sich zumindest in Gedanken mit Tias Vater zu verkrachen, der auf der Flucht vor der Katastrophe fast immer die Tür zuknallte zwischen dem, was sie bereits gesagt hatte und dem, was sie sagen wollte; und damals, als du mich warten ließest oder du hast dich überhaupt nicht für mich eingesetzt – und es gab, um es kurz zu sagen, unzählige solcher Fälle.

Die Liebhaber. So hieß Tias erster selbstverlegter Gedichtband, dessen Druckkosten auf Bitten ihrer Mutter von der Krakauer Niederlassung der Firma Motorola übernommen worden waren, und den – Bekannte und Verwandte ausgenommen, und selbst diese mit Zurückhaltung – lange überhaupt niemand auch nur angefasst hatte. Erst als eine Anerkennung auf die nächste folgte, zuerst der Preis in Montreal und dann der Griffin Poetry Prize – welcher, nicht dass sie schadenfroh wäre, sogar der viel erfahreneren Luise Glück entgangen war –, nahm die Nachfrage nach ihren Bänden zu, auch nach den limitierten Auflagen, und zwar so sehr, dass ein Exemplar der Liebhaber oft den Preis von unglaublichen zweitausend Zloty erreichte. Frau Chlebek hatte dieses Buch viele Male in ihren Händen gehalten, aber eigentlich nie wirklich, sie hatte wohl den Verdacht, dass der Inhalt sie mehr betraf, als er eigentlich sollte, und wollte nicht herausfinden, warum die Gedichte Kleiner Liebhaber, Erster Liebhaber, Lustiger Liebhaber, Glücklicher Liebhaber – und so fort – hießen. Sie feuerte sie blind an. Dass diese Entscheidung falsch war, dass sie beim endgültigen Abschied umso trauriger waren, wenn die Nachricht über die jeweils andere auch nur ein wenig zum Triumph neigte, zeigte sich daran, dass Tia dann auf jegliche Art von Kritik hoffte: entweder positiv, was sie als Übernahme von Verantwortung interpretieren würde, oder als negativ, was ihr – nicht zuletzt durch Streit – dazu dienen würde, die Dinge zu bereinigen. Derzeit waren ihr Bündnis, ihr Frieden, ihre Dualität dauerhaft zerrüttet.

Sie erinnerte sich plötzlich daran, in Yokohama, und zwar in dem Moment als sie, an die Brüstung rund um den Fußweg zur Zentralen Stadtbibliothek gelehnt, den ersten Europäer erblickte. Sieh an, er war zwar früh dran, aber offenbar wusste er, wie er Kontakt aufnehmen kann, da indigene Männer in seiner Gegenwart lächelten. Seine Hände in der Luft, lebhafte Zeigefinger, die wie Motorola-Antennen aus vollen, wenn auch leicht geballten Fäusten hervorsprangen, übten ihre eigene Sprache, deren Konventionen sie an das erinnerten, was sie selbst zu verwenden versuchte – die einzige Möglichkeit, sich in einem Raum voller unbekannter Menschen nicht unwohl zu fühlen, bestand darin, sie alle kennenzulernen. Die Beine waren etwas anderes: Obwohl er auf dem zwölften stand und seine Zuhörer auf dem vierzehnten, also sozusagen ein oder zwei Schritte höher, und in der Hitze seiner Rede vor und zurück schwankte, ließen seine Haltung und vor allem sein Gesichtsausdruck durch nichts darauf schließen, dass er befürchtete, auf die Asphaltoberfläche zu rollen, wenn er nicht vorsichtig genug war. Nichts. Sein Körper war eine Nachbildung der Kiste der Weisheit[2], ein bewundernswertes judäisches Wunder. Er nahm Tia erst wahr, als das Geräusch ihrer Absätze, die immer intensiver und näher kamen, das Ende des Satzes überschattete, der vielleicht für immer in seiner Kehle steckenbleiben würde, aber selbst dann konnte er nicht herausfinden, ob das gewissermaßen ein Relikt christlicher Ethik war, er sah ihr nicht in die Augen, auf ihre Lenden oder, wenn es wirklich sein musste, auf ihr verschwitztes Dekolleté, weder nach links noch nach rechts, sondern dahin, von wo, wann immer sie sich bewegte, ein Tonsignal gesendet wurde ‒ aufs Fersenbein.

»Paweł Kaczmarczyk.« Er reichte ihr die Hand, doch vergebens, sie bemerkte nur die Treppenstufe, die Verletzung und vor allem ihre Zehen ohne Halt:

»Du fällst noch hin«.

Es sei darauf hingewiesen, dass sie, klug geworden aus der Erfahrung in Tokio – bei der nicht einmal das letzte Haar auf dem Kopf davon ausgegangen war, dass jemand so Geniales verloren gehen könnte – eine Reihe besonderer Maßnahmen ergriffen hatten, vor denen der selbstverwaltete literarische Kreis nicht zurückschreckte, um ihre Privatsphäre nicht zu gefährden, stellte sie sicher, dass sie an dem Programm teilnahm. Für Blinde gab es Hunde, für sie einen menschlichen Führer, er folgte ihr still den ganzen Weg von Sakuragichō bis Oimatsuchō und beantwortete gezielt ihre Fragen, die direkten wie die rhetorischen, was dieses Protokoll völlig inakzeptabel machte.

»Wer bist du, Keisuke?« unterbrach sie ihn plötzlich.

»Nun ja … Keisuke.« Er gähnte, zuckte mit den Schultern und verstummte wieder.

Auf der anderen Seite nutzte Kaczmarczyk, dessen Name wie ein schlafender Archetypus sowohl Tias Vergangenheit als auch ihre Zukunft kolonisierte, dessen Pupillen merkbar weiteten, wenn er Chlebek hörte, jeden Moment, so auch in Hakkeijima, um sie, und sei es in Abwesenheit, in ein Gespräch zu verwickeln. Vor langer Zeit, noch vor den Eisenbahnschienen, die schließlich die Kampffestung Kamakura mit Yokohama verbinden würden, gingen die Menschen zu Fuß über den Kiridoshi, der angeblich vom berühmten Krieger Asahin Yoshihide in einer Nacht erbaut worden war. Wusstest du, wusstest du? – Nein; Möchtest du die Geschichte der Göttin Benzaiten hören – gerne. Nur wusste sie nicht wie, und sie machte sich nicht einmal die Mühe, es zu verbergen: Sie war fasziniert von der Tatsache, dass es in seiner Interpretation von Katalog-Kuriositäten, um was auch immer es in einem bestimmten Moment ging, keinen Leerlauf gab, keine Ausschmückung und leider zu viel Wahrheit, die sie post festum, als sie zu sich kam, in ihren eigenen Augen etwas entwertete. Sie wurde von dem Gefühl begleitet, der Hitzequelle zu nahegekommen und von diesem Mann, der seine natürliche Überlegenheit ausspielte, mit seinem Lumen geheilt worden zu sein.

Doch als er die Murmel in den Aschenbecher schnippte und so die Ramune-Flasche entkorkte – was für sie im selben Moment zur Definition von Männlichkeit wurde – nahm sie seine Exkurse zur Kenntnis, die kleinen Stenogramme der Liebe, die jemand Oberflächliches, der zufällig vorbeigekommen wäre, falsch deuten könnte, was sie nach Bearbeitung Zergliederungsmethode nannte und beschloss, ihn um jeden Preis aus ihrer Erinnerung zu tilgen. Vielmehr war sie sich sogar sicher, dass sie sich kannten. Ihr fiel Freuds »Zwergenstaat an der Riviera, dessen Hauptstadt Monte Carlo ist« ein, und wie sie sich am Ort des vergessenen Namens sowohl Montenegro als auch Piemont mit dem Formans mont als größtem gemeinsamen Nenner fanden, doch jedes Mal, wenn das Aufdecken sich der entscheidenden Phase näherte, würde der gesuchte Begriff ihr plötzlich die Zunge hinunter rasen und sie spürte, wie sie um ein ganzes Wort leichter war, sozusagen – warum auch nicht – um ein Gramm.

»Ich erinnere mich an dich. O-Bus, Krakau, ich habe Szymon erzählt, woran ich arbeite … es war, glaube ich, die Doppelte Authentifizierung. Du hast mich gefragt: Schläfst du jemals?«

Während er um ein Haar sagte gekauft, drehte Kaczmarczyk seinen Kopf weg, um sie besser sehen zu können.

»Du hast mich mit jemandem verwechselt«, sagte er und lächelte, und zwar nur mit einer Gesichtshälfte.

»Vielleicht«, antwortete sie und blickte nach unten, ihn unterhalb der Schusslinie lassend, »vielleicht«.

Eigentlich war das ein Rückfall in die klassische Frustration, der nichts anderem ähnelte: Er hatte sich, obwohl sie ein paarmal den Abzweig zur Hinodechō-Straße verpasst hatten und sich buchstäblich verlaufen hatten, verhalten, als hätte er sozusagen am Ōoki-Fluss seine Jugend verbracht, als hätte er den ganzen Rest der Welt in seinem ganzen Hedonismus und Polyvalenz schon bereist, in der Absicht, nichts Erwähnenswertes darin zu finden, nichts, mit einem Beigeschmack von Verachtung, eines Yokohama würdig. Heterotopie, das war das Wort, mit dem er es beschrieb. Im Vergleich dazu wirkte es, als hätte Tia, obwohl sie die ganze Zeit auf fremde Kosten reiste, Kokoszkowy noch nie verlassen, vielmehr als würde sie vorbei an den aktuellen Geschehnissen, sprichwörtlich von irgendwelchen Ressentiments belastet, ihr kleines stets aktives Kampffeld durchlaufen, weshalb sie sich all das noch nicht einmal merken konnte. Doch der gemeinsame Auftritt, währenddessen sie, bevor sie endlich zu reden anfing, darum gebeten hatte, die Tür zu schließen, die er, ohne abzuwarten, dass jemand anders aufstand, geräuschlos mit dem Fuß zugestoßen hatte, wurde auf einmal gewissermaßen zur Police, im Falle, dass ein solcher Unterschied, zusätzlich zum Altersunterschied von etwa zwanzig Jahren, Anlass zum Hinterfragen gab. Hetero-u-topie, dachte sie sich, während sie, ohne die zurückgelegte Entfernung in den Gliedern zu spüren, die erleuchtete Uferpromenade in Daikoku entlangliefen:

»Ich bin nicht sicher, ob ich dich in einer anderen Stadt erkannt hätte.«

»Gut«, sagte er, »dann werden wir uns eben in jeder Stadt wieder von neuem kennenlernen.«

Worte, Worte. Jedes von ihnen um einen Kopf bedeutsamer als das davor, stahlen sie sich mit einer Geschwindigkeit heran, von der die gut in den Baumkronen versteckten Vogelgalaxien als schwarzes Feuerwerk auseinanderstoben. Worte, diese warmen Lagerplätze des Lebens, ein Schwa in einem Laut, der mal palatal, mal nasal, mal guttural war, oder hentō-tai, was in Kobe ‘Amygdala’ in Hongkong jedoch ‘Mandeln’ bedeutete, das sanfte miłość, das wie shi[3] klang; lauter mystische, nein, Pardon – erfundene Worte, die wie Gebrauchsanweisungen von authentischen Erklärungen begleitet wären, Stunden der Nähe, in denen es schien, als hätte er sie schon immer gekannt. Viele würden sagen: vergebens. Auf dem Rückweg, zwei Stunden nach Mitternacht, blieben sie unweit des Yamashita-Parks stehen, neben dem Turm, der, wie etwa der Sankeien-Garten in der Honmokusannotani-Straße, als koibito no seichi gekennzeichnet war, ‘der heilige Ort der Liebenden’, und dort tauschten sie Nummern aus. Man kann mit ebenso viel Zuversicht wie Beklommenheit behaupten, dass genau in diesem Moment, mit einer Vorahnung und eine Nanosekunde zuvor, ihre beispiellose Verbindung, ihr wunderschöner Reueplatz mit einer scheinbar harmlosen Analepse erklang, einem kurzen déjà-vu, wegen dem sie völlig ungeplant nach unten schaute, über einen offenen Schacht sprang und dabei nicht an den Sturz dachte, sondern daran, wie wenig gefehlt hatte, dass die Befürchtungen ihrer Mutter jetzt, da sie am glücklichsten war, endlich Wirklichkeit wurden. Aber das war bei weitem nicht so beängstigend wie die Erkenntnis, dass Kaczmarczyks Name, aus irgendeinem Grund, den sie immer noch nicht ergründen konnte, bereits in ihrem Telefonbuch gespeichert war, und zwar, wie sonst, als Liebhaber.

»Lebewohl«, sagte sie, sogleich fiel ihr die Vereinbarung wieder ein, »wir sehen uns in Breslau.«

»Und überall, wo wir die gleichen Dinge mögen«, antwortete er und steckte sein Motorola in die Tasche.

Hätte er sich nicht so schnell umgedreht, wäre ihm aufgefallen, dass ihre angsterfüllten Augen wieder völlig ausdruckslos geworden waren. Stille, endlose Stille.

Wird fortgesetzt …


[1] Dt. Übersetzung Doreen Daume.

[2] Installation von Kikuma Mochizuki im Hof der Zentralen Stadtbibliothek in Yokohama (Kanagawa). Es ist eine leicht zum Hang geneigte Metallkiste.

[3] Miłość ‒ pol. ‘Liebe’; shi ‒ jap. ‘Tod’.