Foto: Iva Mandić (Pobjeda)
Aus dem Montenegrinischen von Alida Bremer
Montenegro ist … die schmerzhafte Tradition all jener, die dort leben. Eine treffende Metapher über die Geburt in Montenegro lautet: „Es ist mit der Stirn hinausgefallen“. So sagten die Großmütter anstelle von „Es wurde geboren“. Das Neugeborene wird bis zu seinem Tod von dem Klang dieser Ankunft begleitet, als wäre er ein Echo des Zusammenpralls zweier Steine, wie der Widerhall eines Steins, der von der Spitze des Felsens hinabstürzt und in die Schlucht rollt, bis er am Boden des Flusses zur Ruhe kommt. Es ist der Schmerz der Geburt – des Sturzes – und der Schmerz des Menschen, der sein Leben lang die Berghänge herabsteigt, atemlos ob der Schönheit der grausamen Gegensätze.
Montenegro ist … die schmerzerfüllte Grimasse und der Schrei, aufgetragen von den Pinseln des Malers Dado Đurić; der Schrei des Hahns von Miodrag Bulatović, der zur Sonne aufstieg und zum Phönix wurde; die nackten Füße der Frauen mit schwarzen Kopftüchern – Živko Nikolić hat gefilmt, wie sie über die Felsen scharren; das Schweigen von Miladin Šobić, nachdem er sich von seiner Schwester verabschiedet hat.
Montenegro ist … das Nachdenken der Ksenija Petrović („Sind die Winter in Cetinje immer noch so eiskalt?“), der letzte Tropfen der Adria in den Kehlen der montenegrinischen Reisenden auf dem Schiff Brindisi, an dem unweit der albanischen Küste das Salz nagt; die Frostbeulen an den Füßen der Mütter und der Frauen, die sich unter Beschuss bis zu den ersten Frontlinien auf Razvršje durchschlugen, um den Soldaten Lebensmittel zu bringen; das Rumpeln des mit Steinen überladenen Lasters, den mein Großvater Luka Mirov unweit von Petrova rupa gefahren hat, um seine Ladung von einem Punkt zum anderen zu bringen.
Montenegro ist … der Schweiß der Bauern unter der Sonne, die Mirko Kovač beschrieben hat. Montenegro ist die glühende Sonne des Mittelmeers, der Korb voller Feigen, die unverkauft geblieben sind, und der verschüttete Trester, aus dem noch Schnaps gebrannt werden sollte, nachdem der Wein abgegossen ist; die Priganice aus Hefeteig, die die Großmutter mit einem gesunden und ihrem anderen gelähmten Arm für ihre Enkelkinder frittierte; Montenegro ist der Schmerz meiner Tochter Ena, wenn ich ihr morgens ihre Insulindosis gebe.
Montenegro ist … der Schmerz der Mütter, deren Kindern es nicht gelingt zu sprechen, der Schmerz der Krebs-Patienten in den Warteschlangen, die auf die fehlenden Medikamente warten, die Schüsse mit Tränengas und der Lärm der Hubschrauber, die die Landung der serbisch-orthodoxen Popen begleitet, wenn sie zu ihrer Feier kommen. Montenegro ist der Aufschrei. Evviva!
Montenegro ist … im Magen versteckt, während du von Njeguši nach Kotor hinabsteigst. Oder während du durch die Schluchten von Morača und Piva läufst. Der Duft der Eiscreme am Busbahnhof in Titograd Anfang der achtziger Jahre. Die süßen Kartoffeln aus Podgora. Der dürre Rasen, der sich um die Wohnblöcke erstreckt, und die verstaubten Spielplätze ohne Kinder. Der Klang des Gummiballs, wenn er gegen den Stein schlägt, der Torpfosten des imaginären Tors.
Montenegro ist … der Schmerz meines Trauzeugen, der den Heckenschützen in Sarajevo entwischt ist und in Ulcinj ein neues Leben begonnen hat, um einige der schönsten Seiten unserer Literatur zu schreiben. Wenn die Milizen in Herceg Novi an die Türen schlagen, hinter denen jene Bewohner atmen, die man deportieren wird. Das Klickern der Granaten, die der Soldat mit dem roten Stern an der Mütze in eine Kiste legt und auf den Laster lädt, der nach Ćilipi fährt. Der Hals der elektrischen Gitarre aus der Erzählung von Sreto Asanović, die montenegrinische Reservisten aus einem Haus in Konavli gestohlen haben.
Montenegro ist … die Wut meiner Mutter, als sie erfuhr, dass ein Postbote, der denselben Nachnamen wie wir trug, ihren älteren Sohn bei der Militärpolizei verraten hatte. Die Grabmale in den Fundamenten der Kirche in Pišče, die stummen Spolien, die die Zeit hüten. Und der Wind in den umliegenden Bergen, in denen Schafsböcke und Rinder weiden. Der Gipfel Prutaš, der zum Bergmassiv Durmitor gehört und alles überblickt, der auch das Geheimnis des Herzogs Momčilo hütet, eines Onkels des Volkshelden Kraljević Marko.
Montenegro ist … die Schwester, die in ein anderes Dorf verheiratet wurde und die um ihren Bruder besorgt ist. Und der Schwur, den sie ihren Kindern hinterlässt: „Zwei Cousins, zwei Vojinovićs“. Ihre Erzählungen, in denen Träume vorkommen und darin Wetterdämonen. Der Schmerz des Schmieds, der mit dem Hammer seinen eigenen Finger trifft, während er Säbel für das Heer des Heiligen Peter von Cetinje schmiedet, mit denen dieses die Osmanen am Schlachtfeld Krusi besiegen wird. Montenegro ist das Klacken der Stiefel von Milovan Đilas, der zurück in die Heimat kam, um den Aufstand anzufachen. Das Lied „Warum flattert die Fahne nicht auf dem Berg Marjan …“, das im Musikunterricht ertönt, die klare Stimme der Lehrerin Dobrila, die aus Trauer um ihren Bruder Schwarz trägt. Montenegro ist der Urin an dem Bronzedenkmal für Ljubo Čupić.
Montenegro ist … auch der vereiste Blick des Bergarbeiters, der mit Schießpulver die Felsen in Platije gesprengt hat, danach ausgerutscht und vom Gerüst in den Fluss gestürzt ist. Das Quietschen des Eisenbahnwaggons, der den Hang des Bioč hinunterrollt. Die rote Innerei des rumänischen Autobusses unter der Brücke in Međuriječje. Die Konsonanten, die ein Passant laut ausspricht, während er die Namen der Dörfer zwischen Nikšić und Foča vorliest (mehr darüber im Essay von Marko Vešović). Montenegro sind die Landschaften des Malers Aca Prijić, die er vom Weg oberhalb des Dorfs Dobrsko selo aus betrachtet und erfasst hat.
Montenegro ist … die Wut des Kapitäns auf großer Fahrt, der eine Barke in der Bucht steuert und lustlos die Fragen der Touristen beantwortet. Montenegro ist das Meersalz in den Nasennebenhöhlen. Das Meerwasser, das der Schwimmer fünfzig Meter von der Küste entfernt ungewollt geschluckt hat, von einer Arrhythmie erfasst. Der Gestank des Johanniskrauts, mit dem sich die Alten einreiben, wenn sie einen Sonnenbrand haben. Das Zischen der Luft, die den Gummimatratzen entweicht. Der Strohhut auf einem übergewichtigen Körper. Das Fieber nach einer Vergiftung durch Spaghetti frutti di mare.
Montenegro ist … der Hautausschlag von Nikola Lopičič in den Lagern Klos, Kavaja, Kolfjorito. Sein stummer Blick, gerichtet an den ehemaligen Schüler, der ihn auf der Straße in Zagreb erkannte und rief: „Das ist ein Roter, das ist ein Roter“. Montenegro ist Nikolas Manuskript in der Truhe, die der Tochter von Antun Boglić gehörte. Und eine Armbanduhr – ein Geschenk für den frischgebackenen Professor für montenegrinische Literatur, der bei der Verteidigung seiner Diplomarbeit über die Erzählungen des russischen Schriftstellers Nikolai Punin gesprochen hat.
Montenegro ist … der Traum des Jungen, der nie die Gitarre bekommen hat, jene aus dem dritten Regal des Kaufhauses Nikšićanka. Und die Lüge in der Monografie „Die Magie dauert an“, die dem Theater in Nikšić gewidmet wurde. Die Zufriedenheit des Dichter-Dilettanten und die Neurose des Schriftstellers, der mit keinem seiner weiteren Bücher den Erfolg des ersten Buchs wiederholen konnte. Montenegro ist das Poesiefestival der Mittelmäßigen, das Theater der bestellten Theaterstücke und die Ausstellung der ausverkauften Leinwände.
Montenegro ist … der Schmerz des Gefallenen. Mit der Stirn auf den Stein. Und die Wurzeln, mit denen der Gefallene sich an den Stein gehaftet hat. Aus diesen Wurzeln werden neue Pflanzen sprießen, sie werden wieder fallen und neue Wurzeln im Stein zurücklassen. Montenegro ist die schmerzhafte Tradition des Falls. Und das Echo des Schlagens eines Steins auf den anderen. Und des Sprießens. Und der Klang eines neuen Sprießens aus den Steinadern. Ein Schrei ist Montenegro – Evviva …