Vater war im denkbar heißesten Sommer von uns gegangen. Die Hitze brachte das Gehirn zum Kochen, doch ich fror in der Kapelle, während sich vor uns die Menschen in endlosen Schlangen aneinanderreihten, um mir ihre schweißnassen Hände oder – im schlechteren und leider häufigeren Falle – ihre klebrigen Gesichter zu einem gleichgültigen Kuss zu reichen. Eine immense Herausforderung für jemanden wie mich, die nach den Worten jener, die allem um jeden Preis einen Namen verpassen mussten, eine »Störung der sozialen Interaktion« hatte. Blödsinn! Das war keine Störung. Ich begreife einfach nicht, warum man von Menschen nicht erwarten durfte, ihre Gefühle auch ohne Berührungen zu zeigen.

Kaum zu glauben, wie viele unwichtige Details aus dieser Zeit sich mir ins Gedächtnis gebrannt haben, gegen meinen Willen und meine Absicht. Dabei wollte ich gar nichts in Erinnerung behalten, bis auf die Szene, wie wir mit über die Politika gebeugten Köpfen am Tisch sitzen, da mir mein Vater mit den Großbuchstaben dieser Zeitung Lesen beigebracht hat. Dennoch bleibt auch die Kühle der Marmorbank in der Friedhofskapelle unvergessen. Der schwere Geruch der Türkenbund-Lilien aus den Sträußen am Altar. Ich erinnere mich sogar an die lateinische Bezeichnung. Lilium martagon. Und die taxonomische Hierarchie. An die Melodie von Podmoskovnye vechera, die ich seit seinem Tod nicht mehr ertragen kann. Vaters Cousine Desa, die in der Julihitze schwitzt und sich schwer seufzend die feuchte Stirn mit einem Taschentuch abwischt, während die Luft über dem heißen Asphalt nervös vibriert, begleitet vom quälenden Gesang der Zikaden, oder wie auch immer man dieses irritierende Geräusch nennt, durch dessen Frequenz angezeigt wird, dass die Lufttemperatur vierzig Grad im Schatten längst überstiegen hat. Platanen, die trotz ihres üppigen, uralten Blätterdachs keinen Schutz vor der verheerenden Hitzewelle bieten. Fehlt nur noch, dass mir Desa hier umkippt, ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass sie vorletztes Jahr einen Herzinfarkt hatte, woraufhin ihr Stents implantiert wurden. Wir müssen es hier noch mindestens eine Stunde aushalten. Halt durch, Desa, nur noch ein bisschen, ich flehe dich an. Ein Auto wartet vor der Kapelle darauf, dass Familie und Freunde sich vom Verstorbenen verabschieden, um ihn dann zu seiner Grabstelle zu fahren. Die unbekannte Frau, die da auf der Bank saß, war vermutlich mit mir verwandt oder stand meiner Familie auf andere Weise nahe. Plötzlich klingelt inmitten dieser feierlichen Stille ihr Handy, in einer mörderischen Lautstärke. Ein wohl an jedem beliebigen Punkt dieses kaputten Planeten unvorstellbarer Zwischenfall, geschweige denn an diesem, wo einzig der Todeskult noch bedingungslos und uneingeschränkt respektiert wird. Diese Giftziege mit sichtbarem Übergewicht, einem Überschuss männlicher Hormone und einem ebensolchen Mangel an Manieren und Empathie nahm tatsächlich auch ab und begann ohne einen Funken Zurückhaltung laut zu erzählen, dass Radmila aus der Schweiz auf Urlaub gekommen sei und sie mit ihr nachmittags einen Kaffee trinken gehen würde. Ich erinnere mich, dass ich meine Familie fragend anschaute, jedoch alle mit den Schultern zuckten, außer meiner Tante, die schamhaft hervorpresste, es sei ihre Nachbarin, und sich dann widerwillig zu ihr gesellte, was diese offenbar kaum erwarten konnte und direkt nach dem Auflegen begann, sie zuzutexten. Dabei würden wir in einer Stunde meinen Vater der Erde überantworten.

»Hör mal, vor einer Viertelstunde, als du gerade Hände waschen warst, kam Vesna Pejić vorbei«, schwätzte die Nachbarin unerbittlich. »Sie bat mich, dir zu sagen, dass sie da war.«

Na super, denke ich mir, andernfalls hätten wir ihr glatt ein ‘unentschuldigt’ eingetragen. Und genau in dem Moment dieser abgestandenen Zeit spürte ich einen kurzen, aber verhängnisvollen Stich im Magen und mir wurde klar, dass von nun an und für Jahre alles in meinem Leben Kopf stehen würde.

Es war mir schon immer schwergefallen, von meinen Traurigkeiten zu sprechen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Nicht, dass ich als Kind misshandelt worden wäre oder so, es ist nur so, dass ich mich nie wohl dabei gefühlt habe, schmerzhafte Erfahrungen mit jemandem zu teilen. Zehn Jahre sind vergangen, seit mein Vater gegangen ist, doch ich habe mir diese nützliche Fähigkeit des seelischen Lastenabwurfs nie angeeignet. Ich komme zu dem Schluss, dass Schmerz definitiv eine weder teilbare noch übertragbare Erfahrung ist. Ich bin auch heute noch dieselbe Einzelgängerin wie zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter mich verließ, im denkbar kältesten Winter. Ich weinte und klapperte mit den Zähnen, in derselben Kapelle, teils nervlich bedingt, teils wegen der Kälte in Kombination mit der Feuchtigkeit des heftigen Eisregens, die sich immer wieder so gemütlich in meinen Knochen festsetzen wollte, und dankte Mutter endlos dafür, dass sie mehrfach betont hatte, ausschließlich von ihrer engsten Familie zu Grabe geleitet werden zu wollen. Daran werde ich mich am Ende erinnern. An diese Dankbarkeit. Und an den Neid und die Eifersucht auf alle, deren Eltern noch am Leben sind. Vielleicht ist das auch eine Störung. Weil ich denke, ich sollte es nicht fühlen. Ich meine den Neid und Eifersucht, nicht die Dankbarkeit. Und so … Die meiste Zeit geht es mir gut, ich lebe, ich atme. Ich arbeite. Alles ist gut, solange es mir gelingt, dieses sogar in meinem verkümmerten Gehirn noch lebendige Bild von mir selbst als Kind zu erhalten: unentwegt plappernd, nervig, unruhig, mit blonden Zöpfchen, wie ich beim Gehen hüpfe, mit meiner Hand in ihrer, während sie mit mir zu Tante Anđa geht, damit diese mir ein Mäntelchen näht. Eine faszinierende Strickmaschine hat die Tante, und ganz viel Schneiderei-Zubehör, Modezeitschriften mit Schnittmustern und Nähanleitungen, Schneiderkreide, bunte Stoffreste und alle möglichen anderen Fetzen, die sie mir schenkt, damit ich mir daraus Puppenkleider mache. Wir gehen ins Zentrum, sie tritt vorsichtig und elegant nur mit dem Vorderteil des Fußes auf, ich hingegen unvorsichtig, tapsig, mit dem ganzen Fuß, wir nehmen eine Abkürzung durch den nahegelegenen Park, besser gesagt Wald, der später in einen botanischen Garten umgewandelt wurde. Hier überkommt es mich dann für gewöhnlich. Meine Augen füllen sich mit Tränen, das Kneifen in der Nase vertreibe ich mir durch wortloses Summen einer Melodie ohne Rhythmus, mit Text ohne Sinn und Bedeutung. Es soll schnell vorbeigehen. Einfach nur vorbeigehen. Mama.

Ich bin froh, dass sie mich nicht sehen kann. Sie würde sich unnötig Sorgen machen: du bist blass, trink doch manchmal eine Tasse Blasentee, geh nicht so spät ins Bett. Und mach dich mal ein bisschen schick, um Himmels willen. Ich bin auch froh, dass sie nicht hören kann, wie Laki und ich uns ständig streiten. Denn das ist mittlerweile echt schlimm. Es sind nicht mehr diese banalen Kabbeleien über blöde Kleinigkeiten, nein, jetzt haben wir wirklich angefangen, uns gegenseitig zu zerfleischen. Absichtlich grob. Böswillig. Wir scheinen beide entschlossen, den anderen dazu zu bewegen, den Schlussakkord anzuschlagen. Ich will keineswegs versuchen, meinen Anteil an der Schuld herunterzuspielen. Ich weiß, dass ich anstrengend sein kann, aber was ich gerade mache, ist selbst für meine Verhältnisse übertrieben. Immer öfter ertappe ich mich dabei, dass ich ihm etwas Hässliches, Ekliges, Demütigendes sagen möchte. Etwas, das jeden Muskel in seinem mittlerweile so abstoßenden Gesicht vor Erregung zucken lassen wird. Ich erkenne mich weder in meinem Spiegelbild noch im Echo meiner Stimme. Das hier bin nicht ich. Aber ich kann einfach nicht mehr aufhören.

Maša weiß das ganz genau, schließlich habe ich ihr schon unzählige Male gesagt, dass ich keine Maronen mag. Ich verstehe nicht, wie jemand diese nichtssagende, charakterlose Frucht mögen kann, die erst durch die Zugabe einer großen Menge Zucker und Rum irgendeinen Geschmack bekommt. Pfui. Und doch steht vor mir auf einem pompös geschmückten Tisch eine Geburtstagstorte mit Maronen, hübsch anzusehen, mir zum Trotz, wie ich vermute. Darauf stehen zwei Kerzen in Form einer Fünf, damit ich nicht versehentlich aus den Augen verliere, wie alt ich geworden bin. Als ob sie mit ihren zweiundfünfzig so viel jünger wäre. Ich beschließe, die offensichtliche Provokation zu ignorieren. Irgendeinen Weg werde ich schon finden, es ihr hundertfach zurückzuzahlen. Gott sei Dank arbeite ich nicht, also habe ich alle Zeit der Welt, um mir etwas einfallen zu lassen. Sicher denken manche, es wäre besser, wenn ich mir Gedanken über die Jobsuche machte. Ich weiß, ich bin langweilig und grantig, aber warum ausgerechnet Maronen? Na ja, eben drum – weil du sie nicht magst, du Idiot! Endlich habe ich es kapiert. Ich bin wirklich alt, verdammt. Der Geburtstag, nach dem alles im Leben nur noch bergab geht, ist schon eine Weile her, was durch den Verlust von Haaren, Knochendichte, Lebensenergie, Libido, in meinem Fall auch Arbeit, Schwächung des Bindegewebes und ganz zu schweigen der Ansammlung von Fettgewebe bestätigt wird. Maša sagt, ich sei fragil und empfindlich geworden wie die Wurzel einer Orchidee. Ich hab es ihr noch nicht gesagt, damit sie nicht gleich triumphiert, aber zu allen meinen Qualen gesellt sich gerade noch ein Problem, an das ich mich noch nicht mal zu denken traue. Ich muss hundertmal am Tag pinkeln. Noch hat sie nichts bemerkt, teils, weil sie sich einen Dreck um mich schert, teils, weil ich die häufigen Gänge ins Badezimmer durch mein weit bekanntes pathologisches Händewaschen erklären kann, da ich wie der schlimmste Hypochonder panische Angst habe vor allen Viren, Mikroben und wirklich allem, was da kreucht und fleucht. Nachts bekommt sie gar nicht mit, dass ich aufstehe, denn unsere Zimmer sich ziemlich weit entfernt voneinander, dazwischen liegt ein breiter Flur, und ihre Tür ist immer zu. Ich nehme an, es handelt sich um eine Entzündung der Harnleiter, denn manchmal habe ich auch Schmerzen beim Wasserlassen, aber man sollte das wohl tatsächlich mal von jemand Kompetenterem als »Dr. Google« checken lassen. Ich hab sogar Angst, einen Termin für eine Untersuchung zu machen, geschweige denn hinzugehen. Was, wenn es Krebs ist? Ich habe gelesen, dass auch eine Entzündung der Prostata das Problem sein könnte: »akut, mit schnellem Beginn und sehr ausgeprägten Symptomen, oder chronisch, wenn sich die Symptome langsam entwickeln und lange anhalten«. Es kann sich auch um eine benigne Prostatahyperplasie (BPH) handeln, die »als Folge einer Vergrößerung jenes Teils der Prostata auftritt, der als ‘Übergangszone’ bezeichnet wird, wodurch die anderen Teile der Prostata in Richtung der Peripherie, also der Prostatakapsel, verschoben werden und die Harnröhre gequetscht wird. Es ist bekannt, dass der Prozess mit dem Alter zusammenhängt, sodass im achten Lebensjahrzehnt mehr als neunzig Prozent der Männer an BPH leiden.« Mann. Aber es könnte auch Krebs sein. »Eine der häufigsten bösartigen Erkrankungen des Mannes, hinsichtlich der Häufigkeit an erster oder zweiter Stelle unter allen bösartigen Tumoren, bei Männern ab dem 50. Lebensjahr. Mit zunehmendem Alter steigt das Krankheitsrisiko.«

»Was soll ich dir sagen, genau wegen solcher Lebenssituationen heiraten die Menschen«, sagte mir Raša, mein Trauzeuge, vor etwa einem Monat, kurz nachdem wir eine meiner zahllosen Streitigkeiten mit Maša analysiert hatten. »Damit du nicht alleine zum Arzt gehen und auf die Befunde warten musst. Damit jemand mit dir verzweifelt, wenn sie schlimm sind. Dich zur Chemo fährt und neben dir sitzt, während die Zytostatika die nach der Operation verbliebenen bösartigen Zellen zu töten versuchen. Vorausgesetzt, der Tumor ist operabel. Das ist der Sinn der Ehe, verstehst du? Jemanden zu haben, der dich in der Krankheit pflegt. Nicht alleine zu krepieren, weil sonst die Nachbarn die Tür aufbrechen müssten, wenn der charakteristische Gestank und das traurige Jaulen des Hundes ihnen die wahrscheinliche Antwort darauf liefern, warum sie dich schon seit Tagen nicht mehr beim Gassigehen mit Barni gesehen haben.

»Ich habe nicht deshalb geheiratet. Ich habe Maša wirklich …«

»Red keinen Scheiß, natürlich hast du deshalb geheiratet, genau wie wir alle.

Ich will nicht, dass Maša mit mir zum Arzt geht. Wir haben schon seit langem nicht mehr diese Art von Beziehung.

»Red keinen Unsinn, Maša wird dich in der Not nicht im Stich lassen, völlig egal, wie sehr ihr euch voneinander entfernt habt. Selbst wenn ihr euch hasst. Mich hat sie sowieso schon immer genervt, seit sie aufgetaucht ist, bist du nicht mehr derselbe Mensch, das hab ich dir hundert Mal gesagt, aber ich weiß, wozu sie in der Lage ist und wozu nicht.«

»Jetzt tut es mir leid, dass wir keine Kinder haben.«

In den letzten Jahren habe ich mich unabhängig von dieser Geschichte mit dem Wasserlassen oft gefragt, ob Maša und ich als Paar besser funktioniert hätten, wenn wir ein Kind bekommen hätten. Ich weiß von einigen Fällen, wo Paare auf diese Weise ihre kaputte Ehe zu retten versucht haben. Doch ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass uns das gelungen wäre. Ich meine, ein Kind großzuziehen. Wir schaffen es noch nicht einmal, uns konstruktiv zu streiten, wie das die Psychologen und Ehetherapeuten nennen, geschweige denn eine ernstere, anspruchsvollere Aufgabe zu erledigen. Wir verlieren in der Regel vor lauter Kreischen, Wüten und gnadenlosen Beleidigungen die Pointe aus den Augen, meistens sogar den Anlass für den Streit. Selbstverständlich gelingt es uns auch nie, etwas zu klären. Denn es ist auch gar nicht unser Ziel, zu einer Klärung zu gelangen, sondern lediglich unser Gegenüber so tief und bitter zu verletzen wie möglich. Und so gehen wir am Ende nur noch wütender und gehässiger in unsere Zimmer, um unsere Wunden zu lecken und eine Strategie für die nächste Runde zu erarbeiten. Nein, auf gar keinen Fall könnten wir uns um ein Kind kümmern. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich auch weder bei mir noch bei Maša, bei ihr sogar noch weniger (wobei nicht auszuschließen ist, dass hier die böswillige und mittlerweile schon unheilbar streitsüchtige Version meiner selbst aus mir spricht) je einen ehrlichen Kinderwunsch erkennen können, wofür es gewiss auch einen guten Grund gibt. Meine Mutter sagt, ich sei zu eitel und selbstsüchtig, um dem Kind das Podium überlassen zu können. Über Maša sagt sie erst gar nichts, ihr ist klar, dass meine Nörgelei schon für beide reicht.