Foto: ISK
Aus dem Montenegrinischen von
Elvira Veselinović
Beim Betrachten von Schnittbildern der grauen Substanz auf dem Leuchtkasten verkrampfte sich sein Gesicht. Der Fremdkörper hatte das Kleinhirn besetzt und drückte darauf, mittlerweile bedrohte er bereits das Hungerzentrum und das Sehzentrum. Der Patient hörte auf einem Ohr schon lange nichts mehr und würde so auch die Prognose gar nicht hören, dass sie seinen Todfeind im besten Fall, sollte er die Operation überleben, mit Bestrahlungen würden töten können. Im besten Fall. Er glaubte nicht an sich selbst. Er gehörte nicht zu jenen, die gerne Gott spielten. Die Chancen sind gering, murmelte er sich in den Bart, bevor er vor die Unbekannten trat, um laut auszusprechen, was diese nach den langen Fahrten und dem vielen Geld nicht hören wollten. Die Schwester linste auf ihr Handy und registrierte weder das Ausmaß der Sorge noch seine Frage nach der Akte des Patienten, den ihm die Kollegen aus Podgorica geschickt hatten. Er hatte sie immerzu. Vorzeitig abgeschriebene Fälle, die dann Kredite aufnahmen oder mit Mühe und Not das letzte Geld zusammenkratzten, kamen zu ihm, damit er sie vor dem sicheren Tod zurückholte. Wegen der Corona-Pandemie hatte er fast ein ganzes Jahr niemanden vom Balkan operiert. Auch jetzt hätte er den Patienten aus Montenegro lieber gemieden, hätte sein Kollege nicht plötzlich in Isolation gemusst. Er begab sich zum Patientenzimmer.
Die Dame stand über dem Bett. Ihr längliches Gesicht schien irgendwie nach innen zu weinen, ohne Tränen oder Grimassen. Unter ihren Augen war eine Unruhe hängengeblieben wie ein Muttermal, ein Krampf, der nicht verschwinden würde, wie auch immer die Angelegenheit ausging, die sie zu ihm geführt hatte. Er nahm an, dass es die Ehegattin war, doch neben dem Patienten, der mit Mühe und Not eines seiner Augenlider leicht anheben konnte, wirkte sie eher wie seine Tochter. Er begrüßte die beiden mit Kopfnicken.
»Herr Doktor, wir können kein Deutsch, und er dämmert ständig weg. Wir warten auf einen Übersetzer«, sagte die Frau laut, wie durch ein Megaphon; dabei zerhackte sie die Wörter, um jedem einzelnen mehr Bedeutung zu verleihen. Er hob den Blick nicht, gab ihr aber zu verstehen, dass er sie hörte. Er versuchte dem Patienten eine Reaktion abzuringen, gleichzeitig suchte er mit dem Blick die Krankenschwester, die die Akte brachte. Plötzlich überzog ihn die Gänsehaut von etwas Bekanntem – es war nicht der Atem, sondern die Dichte der Luft hinter der verdrängten Peinlichkeit. Der Patient öffnete sein funktionierendes Auge.
»Primaballerina, bist du das?«
Tinkerbells Song erklang im Hintergrund seiner Gedanken, baute sich aus Violine und Flöte auf, diskret wie ein sanfter Luftstrom im stickigen Raum.
»Primaballerina?«, wiederholte der Patient und senkte sein Augenlid.
»Und er redet ständig im Fieberwahn«, sagte die Frau zu niemand Bestimmtem und schaute dabei zur Tür. Die Schwester platzte mit der Krankengeschichte herein und übergab sie dem Arzt, der noch immer an das Geräusch der keineswegs angenehmen Variation des Balletts Peter Pan gekoppelt war.
»Ich weiß nicht, warum der Übersetzer so lange braucht«, donnerte die Gattin, während sie fast schon verzweifelt zu kommunizieren versuchte.
»Sie müssen nicht so brüllen, Doktor Karlo und ich sprechen Kroatisch«, sagte die Krankenschwester mit ruhiger Stimme und versuchte die üppigen Entschuldigungen zu ignorieren. Sie erklärte, der behandelnde Arzt habe dringend in Isolation gemusst, da er Kontakt zu einem infizierten Patienten gehabt hatte. Währenddessen gefror der Blick von Doktor Karlo Tkalec über dem Namen des Patienten.
Perčobić, Nikola. Ein bereits zweimal operiertes Akustikusneurinom. Ein Tumor – gutartig, aber zerstörerisch. Er steckte wieder zwischen den Knochen und hinderte den Blutfluss von allen Seiten. Man hat zu lange abgewartet, das Herz hatte wohl kaum noch die Kraft für einen solchen Eingriff. Die Reise nach Hannover war die letzte Station für den Mann aus einer kleinen, konservativen montenegrinischen Stadt. Er verstand, warum sie ihn abgeschrieben hatten. Die einen aus Unerfahrenheit, die anderen aus Unwissenheit, wieder andere wahrscheinlich aus Mangel an Ressourcen.
Perčobić. Nikola. Aus dieser schrecklichen Stadt, die er verlassen hatte und in die er nie wieder zurückgekehrt war. Das war kein Fieberwahn, es war ein gutes Stück Bewusstsein, wenn auch ein unkontrolliertes. Er verließ das Krankenzimmer, ohne jemandem etwas zu versprechen. Sein halbierter Schritt schien einen Weg gefunden zu haben, sich lang genug zu machen, um vor beiden zu fliehen. Zurück blieb ein Schluchzen, leer wie der Trost eines Menschen, der nicht allmächtig ist.
Nikola. Kolja. Ein nervöses TestosteronFass, das über jeden und alles drüber rollte, der Reaktionsfähigkeit Grenzen setzte und Schicksale von Menschen bestimmte, deren Namen es noch nicht einmal kannte.
Auf der Jagd nach Fehlern, Unterlassungen, nach Emotionen und Schwächen. Eine Qual aus dem Hinterhalt, die stets jene ereilte, die sich nicht verteidigen können und jene, die niemand schützen wollte.
Prima-balle-rina, Prima-balle-rina, materialisierte sich seine Stimme in der Zeitform der Gegenwart, ebenso böswillig wie damals, als er sie zum ersten Mal hörte.
Der junge Karlo, der von vor 37 Jahren, hatte auf dem zentralen Platz der Stadt als Punchingball gedient. Der einzige Junge, der sich in der Ballettschule versucht hatte, als Peter Pan genau wie als Tinkerbell, zart und empfindsam. Er konnte mitten auf der Straße in Tränen ausbrechen. Er weinte auf der Straße, während er den Inhalt seines Kiefers ausspie, und vergaß dabei, ob der Krampf von den Schmerzen kam oder die Schmerzen vom Krampf. Unverstanden und doch verstanden, über alle Maßen naiv. Er verbrachte seine Zeit mit Mädchen, da deren Spiele phantasievoller waren, sie brauchten zum Spielen ein Kostüm, sie brauchten Requisiten und Musik, sie kreierten sich eine Welt nach ihren Vorstellungen, während sie Erwachsene imitierten. Ihre Streitigkeiten waren nicht gewalttätig, ihre Dialoge sinnhaft und seriös. Mit ihnen hatte er Träumen, Tanzen und Schauspielern gelernt.
Prima-balle-rina, Prima-balle-rina, riefen ihm auch andere hinterher, wann immer sie ihn mit seinen Freundinnen kichern sahen, wenn er aus der improvisierten aber angesehenen Ballettschule der Frau Maria Makarenko zurückkam.
Während sie den Patienten vorbereiteten, sammelte die Musik von Benjamin Britten in seinem Unterbewusstsein die Bruchstücke der Erinnerung auf, die der schwere Stiefel des einst gesunden und starken Kolja Perčobić zertreten hatte. Geträumt hatte der junge Karlo, von großen Szenen und grandiosen Musicals; er hatte geträumt, seine angeborene Scheu den Phantasiefiguren aus berühmten Ballettaufführungen zu überlassen, davon geträumt, Siegfried im Schwanensee zu sein, sich unter dem Umhang des Talents zu verstecken, das zu zeigen ihm nie gelungen war. Geträumt hatte er, damals, doch nichts davon ging in Erfüllung.
Unter seinen Händen, ihm völlig ausgeliefert, lag nun der Mann, der einst nur drei Tage vor seiner Aufnahmeprüfung an der Akademie seine potenzielle Karriere mit Füßen getreten hatte, genau in dem Moment, als für ihn die Freiheit in greifbarer Nähe war, sich ganz der Kunst hinzugeben, für die er gelitten hatte, als zärtlich verpackte Unsterblichkeit. Britten spielte immer lauter im Kopf des Arztes, buhlte um Hass, verschmierte Rache über sein Kinn und den Wunsch, genau jetzt, in seiner Schwäche, zu entscheiden, ob der böse Mann, der ihn zur Medizin umgeleitet hatte, das eine Auge, das ihm noch geblieben war, jemals wieder öffnen würde. Genau wie dieser damals, als Schläger aus dem Prvoborac, einmal entschieden hatte, dass Karlo den Musiklehrer nach seinen Nachhilfestunden in Musikgeschichte befriedigen musste, weshalb ihm die Beine in den Knien gebrochen werden mussten. Noch nie war Rache so kalt gewesen, und noch nie hatte sie sich auf dem Operationstisch einer berühmten deutschen Klinik so sehr angeboten. Wie auf einem Silbertablett aus Omas Hochzeitskollektion.
Nach einem achtstündigen Kampf mit sich selbst wollte er noch nicht einmal mehr versuchen, sich von den bösen Gedanken reinzuwaschen. Seine Schwäche war zu Tapferkeit geworden, derer er sich gar nicht bewusst war. Beim Betreten der Wohnung zog er das rechte Bein nach, ungelenk, als hätte er noch nie eine Türschwelle überschritten, und stieß mit dem wohlbekannten inszenierten Halbdunkel zusammen, über das er sich freute wie ein verwöhnter Hund. Herrmann saß am Fenster und gab ihm ein Zeichen, dass das späte Abendessen so gut wie fertig war. Schweißgebadet lehnte er sich an ihn, ganz kalt und nicht mehr wirklich gut riechend.
»Hey, ich wette, es ist nicht so schlimm«, sagte dieser zärtlich, wie ein echter Beschützer. Er küsste seine Stirn und dann seinen Mund, in dem festen Glauben, es gäbe nichts auf der Welt, was sie nicht gemeinsam lösen könnten. »Ich hätte ihn heute fast umgebracht«, gab er zu. Er wollte ihm alles in einem Atemzug erzählen, seine ganze Vergangenheit beichten, jene vor dem Medizinstudium an der Universität Zagreb. Er wollte Ballast abladen, wie jemand, der ein Klavier vom Rücken wirft, mitsamt der Mutter des Klaviers und ihrem betrunkenen Ehemann, dem pensionierten Klaviermatrosen. Herrmann gelang es, ihn zu bremsen.
»Du hast ihn nicht umgebracht, das ist das Wichtigste. Geh erst mal duschen, dann reden wir.«
Wie auf Befehl stand Karlo Tkalec auf und sah seinen geliebten Mann an, zum ersten Mal ohne die Fesseln der nichterzählten Vergangenheit und überzeugt davon, dass sein ganzes Leben ein Weg zu genau dieser Erkenntnis, zu genau dieser Nähe war. Und es tat ihm nicht leid. Er begrub Peter Pan. Er begrub Tinkerbell mit ihm. Vom Badezimmer aus hörte er durch das Heulen des warmen Wasserstrahls die ersten Takte von Debussys Violinsonate und weinte vor Erleichterung.