Foto: Iva Mandić (Pobjeda)

Aus dem Montenegrinischen von Elvira Veselinović
(Milovan Đilas. Sabrane pripovijetke IV: iz periodike i neobjavljene. [Gesammelte Erzählungen IV: Erzählungen aus Periodika sowie unveröffentlichte Erzählungen.] Podgorica: Fokalizator, 2022 )

Hinter uns liegen vier Jahre Arbeit an der Herausgabe der Gesammelten Erzählungen von Milovan Đilas. Im letzten, vierten Band finden sich auch zwei Gruppen von Đilas’ Nachkriegserzählungen: Geschichten, die bis zu dieser Publikation unveröffentlicht waren und Geschichten, die über verschiedene Periodika verstreut sind – Zeitschriften, Wochenzeitungen, Tageszeitungen und diverse Anthologien. Die Entstehungsdaten dieser Geschichten gehören zumeist zur Spätphase von Đilas’ schöpferischer Tätigkeit, die wir früher als die Phase nach der Haft bezeichneten, jedoch wird dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass er einige der unveröffentlichten Erzählungen genau dort geschrieben hat – im Gefängnis. Inhaltlich entspricht dieser Band in jeder Hinsicht seinen zwei Vorgängern: Themenkorpus, Erzählstrategie und Figurenauswahl sind bekannt. Doch erst anhand dieser Veröffentlichung wird deutlich, in welchem Maße sich Milovan Đilas dem künstlerischen Text verschrieben hatte, denn dank der etablierten Chronologie der Veröffentlichung von Kurzgeschichten, die auf der Datierung des Autors am Ende eines jeden Textes beruht, lässt sich leicht schließen, dass Đilas die letzte Kurzgeschichte über die Liebe eines deutschen Gefangenen und einer verwitweten Bäuerin wenige Monate vor seinem Tod beendet hat. Dies wird auch durch die Notiz belegt, die von der Redaktion des Letopis Matice srpske (Annalen der Matica srpska) Đilas’ Kurzgeschichte Ljubav na Tari („Liebe auf der Tara“) hinzugefügt wurde. In einer Fußnote auf der letzten Seite von Đilas’ Erzählung heißt es, Branko Popović habe die Geschichte im literarischen Nachlass des Autors gefunden und für die Veröffentlichung aufbereitet. Die Herausgeber des Letopis geben weiter an, dass Popović im Nachlass am Ende der unvollendeten Geschichte Dvoboj kod umuklog vira („Das Duell beim verstummten Wasserstrudel“) eine Notiz von Đilas gefunden habe, in der er verkündet, er habe beschlossen, mit der Schaffung neuer Werke aufzuhören; das Schreiben einzustellen: „Ich werde keine schöne Literatur (Geschichten) mehr schreiben: wenig Energie, wenig Feuer, Einsamkeit. 21.10.1994.“ Aber das ist nicht die einzige Kurzgeschichte, die unvollendet blieb. Im Familienarchiv von Đilas gibt es drei weitere Aufzeichnungen, genauer gesagt drei Manuskripte unvollendeter Geschichten, über die wir im Nachwort ausführlicher sprechen werden. Aufgrund der Analyse des Tagebuchs aus seiner letzten Lebensphase gelangen wir zu dem Schluss, dass das Schreiben und Veröffentlichen für Đilas von vielfältiger Bedeutung war, keineswegs geringer als das Weben diegetischer Welten auf den Toilettenpapierrationen in feuchten, unbeheizten Gefängniszellen. Heute wurde in der ‘Politika’ meine Erzählung ‘Die Jüdin’ veröffentlicht, schreibt Đilas; ich habe darauf bestanden, teils, weil mir daran gelegen war, nach so vielen Jahren wieder mit einer Erzählung in der ‘Politika’ zu erscheinen, teils wegen des Aufkommens von Antisemitismus bei uns, in Belgrad… 2

Đilas glaubte also, seine Prosa könne, genau wie die sozial engagierten Zwischenkriegs-Erzählungen, mit denen er dank der ‘Politika’ zur breitesten Leserschaft vordringen und den Einfluss der Bewegung sozialer Literatur stärken konnte, erneut positiven Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse nehmen. Eben deshalb tragen viele Erzählungen und Geschichten aus diesem Band die Atmosphäre der Vergebung in sich, der melancholischen Rückschau auf die Kindheit, Erinnerungen an die erste Liebe, der reumütigen Versöhnung früherer erbitterter Gegner oder Feinde … den fast schon epischen Sturm auf den Huchen, jenes quasi mythische Wesen aus der Drina, malt er aus wie, sagen wir, Hemingway, als Abrechnung des Erzählers mit dem Flussungeheuer. Aber in der ersten unmittelbaren Begegnung von Fischer und Huchen nach einem erbitterten Kampf liegt dieser erhabene Respekt vor dem geschlagenen Feind, wie wir ihn nur bei altertümlichen Erzählern oder Dichter-Erzählern mündlicher Überlieferung antreffen.

Đilas’ Erzähler sympathisiert mit den besiegten Feinden, und dass dies nicht nur bei außergewöhnlichen Exemplaren von Flussfischen der Fall ist, zeigt auch die unvollendete Kurzgeschichte “Nebesnica”, in der eine Gruppe abtrünniger Tschetniks in einer Berghöhle, umgeben von Polizei, Udba und Armeeeinheiten dargestellt wird. Das ist der Charme dieser Prosa – sie bietet mindestens zwei Standpunkte, von denen man sich derselben Frage oder demselben Problem nähern kann.

Charakteristisch für die thematische Bandbreite der Erzählungen in diesem Band ist die Tatsache, dass Đilas dem großen Themenkorpus mehrere Kurzgeschichten mit zoomorphem Erzähler hinzugefügt hat. In einem von ihnen (“Zasudnik – Der Sträfling”) fungiert der Erzähler sozusagen als Zuchtochse, was dem Autor dabei half, eine brillante Metapher für die Eindämmung der Stärke des Einzelnen im Kollektiv zu verwirklichen. Die Reflexionen des Ochsen im Berg, nachdem ihm der Landwirt seine natürlichen Kräfte weggenommen und ihn so auf die lebenslange Rolle des Pflugochsen vorbereitet hat, ist ein ironisches Poem über Individuen, die vom System bestraft werden. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte, in der der Junge von seinem Vater beauftragt wird, den kranken Hund Seljo zu erschießen. Unter den unveröffentlichten Erzählungen findet sich eine auffällige Zahl solcher, in denen ein kindlicher Erzähler zu erahnen ist. In diesen Geschichten scheint Đilas zu versuchen, die Gründe für sein persönliches Schicksal zu erkennen – Motive für frühe Krankheit und Angst vor dem Tod, die Hinrichtung eines kranken Hundes durch den Jungen, Ungeschicktheit bei den ersten Liebeleien, erste Erfahrungen mit dem Leben in größeren Städten, Rache eines Jungen, dessen gesamte Familie vom Nachbarn in den Tod gestürzt wurde, die Lebensgefahr beim Schwimmen im Wasserstrudel, die Todesangst eines Jungen beim Abstieg in eine Höhle oder die Reise durch einen dunklen Berg, in der er das Heulen von Wölfen hinter sich hört … Fast alle diese Geschichten sind frei von ideologischen oder politischen Urteilen – alles konzentriert sich darauf, auf bestmögliche Weise das Gefühl der Angst zu illustrieren, sowie das junge Wesen, das von diesem Gefühl auf immer bestimmt wird.

Ob das der Grund ist, weshalb ein Großteil dieser Geschichten bis zu dieser Publikation abwarten musste, um veröffentlicht zu werden? Liegt vielleicht genau in diesen Geschichten die Wahrheit von Leben und Erzählung des Milovan Đilas verborgen? Jedenfalls erscheint es für einen wissenschaftlichen oder fachlichen Vorstoß ebenso sinnlos, diese Fragen beantworten zu wollen, wie es sinnvoll erscheint, den Leser die anscheinend unentdeckten, fast schon mythischen Landschaften von Đilas’ Heranwachsen in Montenegro genießen zu lassen. In dem Montenegro, das er für die Wochenzeitschrift NIN folgendermaßen beschrieben hat (und diese essayistische Erzählung findet sich ebenfalls in diesem Band, erstmalig als Teil des Inhalts einer Monographie veröffentlicht): „Mein Schicksal war es, beide Arten von Montenegro zu erleben – das heroische und das triviale. An das erste glaubte ich und kämpfte dafür. An dieses Montenegro glaube ich auch jetzt. Meine Brüder sind für dieses gestorben, mein Vater wurde unschuldig von dessen Feinden getötet. Das andere Montenegro beschenkte mich mit Erniedrigung und Vergessen und tut dies noch immer. Ich vermute, dieses andere Montenegro ist nicht in der Lage, mich zu schlagen, und zwar deshalb, weil ich nicht daran zweifle, dass ich mit dem ersten sterben werde. Das andere Montenegro hat mich mit Bitterkeit übersättigt: ich musste mit ansehen, wie dessen Anführer und Heerführer – Genossen, mit denen ich im Blut badete und dieselben Träume träumte – ich musste also mit ansehen, wie sie den Kopf von mir abwenden und mich bespucken.

Doch gleichzeitig ahnte und erlebte ich den Respekt Unbekannter, die als Unterdrückte in sich das ursprüngliche, heldenhafte Montenegro bewahrt hatten… Đilas’ Wahrnehmung von Montenegro, auf diese Weise artikuliert, stellt eine der präzisesten Analysen allzeitlicher montenegrinischer Dichotomien dar und gleichzeitig auch ein Erbeben des menschlichen Schicksals, das aus Erfahrung und aus dem Nerv des Dichterklassikers spricht.

Der Klassiker Milovan Đilas hinterließ über 120 Erzählungen, Kurzgeschichten und narrative Essays, d. h. über 2.100 Seiten gedruckten Text (die von der Polizei beschlagnahmten und in den Archiven der Banovina Zeta verlorenen Seiten sowie die unvollendet gebliebenen Manuskripte nicht mitgerechnet). Nicht nur aufgrund des Umfangs dieser Materialien – Essays, Erzählungen und Kurzgeschichten –, sondern auch aufgrund der erzählerischen Qualität zählt Milovan Đilas zu den bedeutendsten Geschichtenerzählern der montenegrinischen Literatur, und nicht nur dieser.

Dies zeigen nicht zuletzt die Gesammelten Erzählungen von Milovan Đilas in vier Bänden, herausgegeben von Fokalizator. Das Ziel dieser Tetralogie bestand nicht darin, „das Unrecht zu korrigieren“, das Milovan Đilas zugefügt wurde, denn Đilas’ Leiden bezüglich der Meinungsfreiheit war so immens, dass der Schaden niemals und durch nichts gelöscht werden kann. Die Tetralogie korrigiert jedoch die dem erzählerischen Werk von Milovan Đilas zugefügte Ungerechtigkeit. Dieser notierte einmal:
povratka nema, ima nezaborava
Rückkehr gibt es nicht, doch gibt es Nichtvergessen.