Schon wieder im Auto, zu dritt auf der Rückbank. Unsere Tochter hängt meistens an meiner Brust, nicht dass sie Hunger hätte, aber es ist ein bisschen wie mit dem Rauchen, sie will sich damit die lange Fahrzeit abkürzen. Der Sohn legt den Kopf, sobald er müde wird, auf meinen Schoß, wo dieses schöne Köpfchen und das weiche dichte Haar sofort schweißnass werden. Er hat schon vieles in sich aufgenommen. Ich spüre, dass er in seinem schweißnassen Köpfchen schon viele Gespräche in seiner ersten Sprache aufbewahrt, der Sprache des verrückten Landes, in dem seine Wurzeln sind. Er hat schon früh angefangen zu sprechen, doch dann für eine Weile ganz aufgehört, da wir ihn aus der Umgebung rausgerissen haben, in der er alle verstehen konnte, weshalb er uns durch Nichtsprechen außerhalb dieses ihm vertrauten Raumes strafen wollte. So zumindest habe ich das gedeutet. Auch unsere Tochter wird schon bald aus der Zeit herausgewachsen sein, in der sie ausschließlich auf mich fixiert ist, sie wird ein Umfeld benötigen. Wenn wir ihnen keine Sozialisation ermöglichen, werden wir zwei gespenstisch stille Kinder haben. Reisende Väter stört es nicht, wenn ihre Kinder still sind. Doch die Mütter auf der Rückbank sehen alles, und sie werden von Schuldgefühlen zerfressen.
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Ich schaffte es, den Mann zu überreden, uns für eine Zeitlang nach Hause fahren zu lassen. Zuerst bemühte ich mich, ihm möglichst auf die Nerven zu gehen, tagelang ohne ein Lächeln, ohne ein Wort, mit Migräne und grimmigem Gesicht, oder, noch schlimmer: mit niedergeschlagenem Gesicht, was als Missbilligung von allem, was er tat oder sagte, gedeutet werden konnte. Endlich sagte er, was ich hören wollte: dass ich ein bisschen wegfahren solle, mit den Kindern, in dieses Land, das ich immer noch als unseres bezeichnete, er jedoch schon lange nicht mehr. Die Bedingung war, dass wir zu seinen Verwandten fuhren, ins Dorf, in das Haus, das er ihnen gebaut hatte. Dort habt ihr alles, was ihr braucht, sagte er, und es ist sicher. Er würde in einer bestimmten Stadt auf uns warten, ich dürfte auf keinen Fall jemandem sagen, in welcher. Das war klar.
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So konnte mein Sohn einen seiner Geburtstage – er ist ein Sommerkind – bei seinem Opa auf dem Dorf feiern, mit Freunden, hauptsächlich den Kindern meiner Freundinnen. Das hat voll Spaß gemacht, Mama!
Seine erste richtige Gemeinschaft. Er hatte die Haltung eines kleinen Prinzen, wehmütig und glücklich zugleich, denn alle waren seinetwegen gekommen, auf sein Grundstück, in sein Territorium. So fühlt sich das also an, wird er wohl gedacht haben, wenn man in seinem eigenen Land ist. Dann reisten wir wieder ab, schon wieder wurde er mit seiner kleinen Schwester irgendwo hingebracht, wo er außer uns niemanden hatte, niemanden zum Spielen, zum Reden oder für das kindliche Prahlen mit seinem eigenen Reich.
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Vom Ritter verlange ich, er solle endlich eine Stadt auswählen. Er erkennt wohl die Unnachgiebigkeit in meinem Blick, also erhört er mich und entscheidet sich für London. Er habe sich ihr, der Stadt London, noch nicht in Gänze hingegeben, sagt er, aber seinetwegen soll es ruhig London sein, für einen Monat oder zwei, versuchen wir es, er könne nicht garantieren, dass das die beste Wahl sei, er kenne ein anderes London, er habe vor meiner Zeit lange dort gelebt, allein, weshalb er nicht wissen könne, wie sich die Stadt für eine Familie eigne. Und wir blieben dort länger als einen Monat am Stück, trafen uns mit Leuten, die er aus einem früheren Leben kannte und die nach wie vor dieselben unverbindlichen Solo-Leben führten. Einer seiner langjährigen Bekannten aus einem früheren Leben, einem Junggesellenleben, sagte uns, dass wir gleichzeitig ein biblisches und ein James-Bond-Leben führten. Das mit James Bond war mir klar: ein großes Kompliment in Männergesprächen. Aber warum biblisch, fragte ich ihn, doch er vermied eine Antwort, denn es gab keine Erklärung für solche epischen Behauptungen, das waren einfach Tatsachen. Statt einer Antwort sagte er, außer uns, die wir mit Kindern überall hin reisten, habe er nur eine vergleichbare Familie gesehen, an irgendeinem Flughafen; an den Mann könne er sich schon nicht mehr erinnern, aber er wisse noch genau, dass die Mutter, die Japanerin, ruhig da stand, vornehm wie in einem weißen Ballett, standhaft wie ein zu Ehren der Weiblichkeit errichtetes Denkmal, umgeben von fünf Reisetaschen und fünf Kindern, und lächelte, fügte er rasch hinzu, damit man bloß nicht dachte, die japanische Mutter habe dort mit gerunzelter Stirn gestanden.
Vielleicht das schönste Bild, das ich je gesehen habe, seufzte dieser Mann, der irgendwann einmal wie der junge Mickey Rourke ausgesehen haben muss, denn zu dem Zeitpunkt sah er aus wie der ältere Mickey Rourke, mit denselben Spuren von Selbstzerstörung in der Gesichts-Textur, wie eine Maske, die eingebrannt knotig das einstige baby-face überdeckt. Mit alkoholfeuchten Augen und der Stimme eines eingefleischten Schlaflosen wandte er sich im Gespräch eigentlich nur an meinen Mann, da er sich bei ihm einschmeicheln wollte. Null Null Sieben kopiert dein Leben, und solche Sprüche. Ich wusste zufällig, dass dieser Mickey-Rourke-Doppelgänger kurz zuvor sein letztes Hemd beim Roulette im Colony Club Casino gelassen hatte, weshalb er jemanden brauchte, der ihm möglichst zins- und rückzahlungsfrei eine bedeutendere Geldsumme lieh.
Glaubt mir, fuhr er mit der Erzählung von der Japanerin am Flughafen fort, während er fast unterwürfig seine Hand auf die Brust presste, glaubt mir, dass ich den Blick nicht abwenden konnte, und ich weiß auch, warum. In den schwierigsten Momenten steht das Bild einer Mutter mit Kindern zwischen uns und der totalen Hoffnungslosigkeit. Und das war die wahrhaftige Illustration der Mutterschaft, schloss er. Diese zärtliche, stille, aber gleichzeitig konstante und fokussierte Anwesenheit, diese erhabene Barmherzigkeit, neben der alles andere verblasst. Und genau das stirbt gerade aus, es verschwindet vor unseren Augen, obwohl wir alle dorthin zurückkehren wollen, zu dieser Gnade.
Besonders, wenn du pleite bist, dachte ich mir, und dich so klamm wie du bist am liebsten ganz tief in den Rockschößen deiner Mutter vergraben würdest.
Was für ein Blödsinn, sagte ich.
Beide Männer zuckten zusammen, schauten mich verwundert an und hoben die Augenbrauen bis zur Mitte der Stirn. Schon wieder dieses fürchterliche Wort, Blödsinn, gegen den Wind geschmettert, in die falsche Richtung. Was war bloß passiert mit dieser Frau, schienen sie sich zu fragen, mit diesem bis eben noch zuverlässig lieben Weibchen? Ich hatte es schon fast so weit gebracht wie diese Japanerin: bereits unhörbar, aber ständig anwesend, immer geschminkt, wehmütig lächelnd; es fehlte nur noch, dass ich drei weitere Kinder gebar. Wo war mein tröstliches Lachen geblieben? War ich etwa auch in der Lage, mit so viel Nachdruck scharfe Worte auszusprechen, die eigentlich den rücksichtslosen Schlampen vorbehalten waren? Die Welt war definitiv am Abgrund.
Wie kannst du das denn wissen, fuhr ich fort, den kleinen Mickey auszufragen, wie kannst du wissen, ob diese oder egal welche Frau so verreist und ob sie voll der Gnade ist, nur weil sie das mit einem Rudel Kinder und fünf Reisetaschen tun muss?
Ein Rudel Kinder? So habe ich das nicht ausgedrückt.
Als ob das was zu bedeuten hätte, wie er sich ausgedrückt habe. Mittlerweile war ich schon viel zu laut; ich erklärte ihm, dass ich gar nicht wisse, wie er sich ausgedrückt habe, aber bei mir im Kopf sei das Bild einer unglücklichen Frau mit einem Rudel Kinder entstanden, diese Mutter sei eine Gefangene, er aber sehe in ihr eine erhabene, fruchtbare Geisha, und überhaupt, hat man jemals von einer Geisha mit so vielen Kindern gehört?
Du willst sagen, ich hätte gelogen, fragte der kleine Mickey Rourke wütend. Ja, sagte ich. Um Gottes Willen, jammerte er, ich wollte euch ein Kompliment machen, sagen, dass ihr mich an Japaner erinnert, die so wunderbar sind in ihrer stillen Ausdauer und auf ihre eigene Weise leben. Immer zuverlässig, rituell, völlig Zen, eben weil sie wissen, dass alles vergänglich ist, unvollkommen und gerade deshalb so schön. Das beste Beispiel und die beste Illustration dafür sind natürlich Kinder. Sich der Freude bewusst sein, die mit Kindern verbrachte Momente bringen … eine große Weisheit und Lebenskunst.
Sagt ein kinderloser Mann, erwiderte ich, während ein Kind seelenruhig auf meinem Schoß schlief, das andere an meine Schulter gelehnt gerade wegdämmerte. Und ich hörte nicht auf. Bla-bla-bla, bla-bla-bla, Bibel, James Bond … mein ganzer aufgestauter Ärger brach aus mir hervor. Da fehlen jetzt bloß noch Geishas und Samurais, oder wie der kleine Mickey sich die Mutterschaft vorstellt.
Der kleine Mickey, wunderte sich mein Mann. Wer ist denn der kleine Mickey?
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Später haben mein Mann und ich uns deswegen gestritten. Du hast dem Mann gesagt, er sei ein Lügner, brüllte er mich an. Ich kenne ihn seit mindestens zehn Jahren. Er ist vielleicht ein bisschen verrückt, aber ein Lügner ist er nicht. Du hast ihn ganz schön fertiggemacht.
Ich hasse Typen wie euch, sagte ich.
Hass? Was für ein schweres Wort! Hasst du wirklich? Warum hasst du?
Weil ihr diese Beziehung als Freundschaft bezeichnet. Dabei ist es gegenseitiges Melken. Gib mir Geld, da hast du Geld, und was bekomme ich dafür? Du? Ich küsse dir dafür den Arsch. Sage dir, du seist Jesus und James Bond und ein Samurai. Okay. Gekauft.
Du bist oberflächlich, sagte der Mann. Du reagierst immer prompt, das erzeugt nur negative Energie. Du hasst jeden, nicht nur uns, nicht nur Männer, du hasst auch Frauen, die ohne Drama und Gejammer mit Kindern verreisen, Herausforderungen lieben, auf mehreren Ebenen Fortschritte machen. Du würdest am liebsten deine Tage mit Freundinnen durch die Cafés ziehend verbringen. Das ist das Einzige, das du nicht hasst.
Das mit den Cafés hatte er richtig geraten, und noch mehr das mit den Frauen, die ohne Drama verreisen. Ich fand sie unerträglich. Das Bild der lächelnden, ruhigen Japanerin hatte sich in mein Gehirn eingebrannt. Ich stellte sie mir im Seidenkimono vor, geschminkt wie eine Geisha, strahlend und elegant inmitten der Mühsal und Langeweile. Warum wurde die Japanerin nicht wütend, fragte ich mich, und rettete so die anderen Frauen, uns oberflächliche, verwöhnte und faule Frauen? Warum gab sie nicht zu, dass die Szene verlogen war? Vielleicht war sie es ja für sie nicht, aber wenn nicht, worin lag das Geheimnis? Woher nahmen manche Frauen diese enorme Ausdauer? Ich weiß es: Sie hatten eine Basis, von der aus sie verreisten, doch mein Haus war ein fahrendes. Das war es. Ich ertrug weder die Ehefrauen noch die Geliebten der Freunde meines Mannes, die zum selben Zeitpunkt wie wir in einer Stadt weilten.
Diese Frauen sahen, wie ich fand, immer spektakulär aus, vielleicht waren sie auch bloß gut gelaunt und erholt, da sie ihre Kinder in ihrer Stadt gelassen hatten und hierher nur einen Abstecher für ein Liebes-Wochenende gemacht hatten. Liebes- plus Einkaufswochenende. Gekleidet in frisch gekaufte Markenklamotten blickten sie auf mein vor allem praktisches geknöpftes Hemd, fragten mich, wo ich das denn gekauft hätte, da es ihnen womöglich entgangen sei, sie jetzt aber unbedingt auch eins haben wollten. Haut, Zähne, Dekolleté, alles war perfekt gepflegt, noch vor der Reise zurechtgemacht; sie hatten einen echt guten Verdienst durch etwas, das nur ihnen gehörte und »sehr süß« war, was die Freiheit war, auf die sie zügellos stolz waren, weshalb sie spürten, dass sie mir ungebeten Ratschläge ins Gesicht schleudern konnten, mir sagen, es sei ein Fehler, dass ich mich den Kindern so sehr widmete, sie hätten ihre ja schließlich auch bei ihrer Mutter gelassen, so sei es für alle besser: für sie, für ihre Ehemänner, für die Kinder und die Omas, alle würden davon profitieren.
Du musst zuerst an dich selbst denken, sagten mir diese Frauen ins Ohr, am Tisch im Restaurant, während ich inmitten eines gemeinsamen Abendessens die Hemdknöpfe öffnen und meine Tochter stillen musste, damit sie weiterschlief. Ich fühlte mich unsichtbar, doch ich war es nicht: dieses Bild von mir, wie ich stillte, rief bei den anderen Paaren einen regelrechten Wettbewerb hervor. Die Männer fingen auf einmal an, ihre Partnerinnen zu loben, als hätte ich durch das Hervorholen der Brust ein Zeichen zum Beginn des Wettbewerbsteils im Programm gegeben. Einer von ihnen sagte über seine Geliebte, sie sei nicht nur schön, sondern in allem gut, niemand könne einen Seeteufel so gut zubereiten wie sie. Und du hast den Sauerbraten mit Gnocchi vergessen, warf sie ein. Es tut mir leid, meine Liebe, sagte er, ich habe es versäumt, deinen Sauerbraten zu loben, denn ich hatte es eilig, zu erzählen, dass du neben dem Kochen auch alles rund ums Haus reparieren kannst. Alle am Tisch stöhnten vor Begeisterung, außer mir und meinem Mann, der mich als Einziger ohne Neid beim Stillen betrachtete, nur mit der Frage, ob ich das unbedingt jetzt tun müsse, als wären wir obdachlos. Ich antwortete prompt mit einem Blick, von dem ich wusste, dass er ihn verletzen würde, denn, hallo, wir waren ja obdachlos, und war es etwa nicht er gewesen, der beschlossen hatte, dass unsere Ehe, zumindest zu Beginn, auf der Tradition beruhen würde, in der ich die Kinder versorgte und er sie beschützte? Wo war denn jetzt unser Schutz, wo war unser Haus?
Dem, der seine Geliebte so gelobt hatte, was für eine tolle Köchin sie sei, und obendrein noch handwerklich begabt, entgegnete ich, es sei gut, all das über sie zu wissen, eines Tages, wenn wir auch ein Haus hätten, würden wir sie einladen, damit sie uns alles Nötige reparierte. Mein Mann duldete keine Frechheit gegenüber Gästen. Er hielt das für Lokalprimitivismus. Meinen, versteht sich. Unter der Wucht zänkischer Blicke und meiner Worte gerieten wir oft auch in lauten Streit, im Beisein aller, während die anderen in der Clique alle so sorglos wirkten, wie naturgegeben geordnet und gut organisiert, aber wir hatten es schwer miteinander, immer nur miteinander, ohne unser Land, unsere Gemeinschaft, ohne Grundstück zum Überwintern, was eines Tages für kommende Generationen als echte Freiheit gelten wird, aber nicht für zwei Sonderlinge, durch Kinder verbundene Einzelgänger – für uns.
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Die ersten zwanzig Ehejahre sind die schwersten, pflegte meine Mutter zu sagen, und beim Versuch, Grenzen zu ziehen gegenüber all diesen Fremden, die mich (ihr Publikum) eigentlich viel mehr brauchten als ich sie (konstruktive Kritiker), kreuzte ich die Arme über meinem Kind, über meiner Brust, als würde ich meine Mutter in meiner Stadt umarmen, an der alten Adresse Bulevar Lenjina, der Adresse, die auf den ganzen Reisen wie Poesie in meinen Ohren klang. It happened long ago, on Lenin Boulevard. Diese Instant-Weisheiten klingen immer gut, liebe Mutter. Manchmal sogar wie die Verse der schönsten Gedichte. Letztlich musste man sich seine Lebenserfahrung aus den eigenen Fehlern zimmern. Ich weiß, dass dir das schwerfällt, Mutter, auch wenn du nie zeigst, dass dir etwas schwerfällt. Auch du hattest dir, genau wie ich, vorgestellt, dass unsere Familie durch meinen Mann und meine Kinder erweitert werden würde. Nun gut, Schwiegersöhne sind unvorhersehbar, dachtest du dir, aber zumindest würdest du meine Kinder bekommen, sie täglich vom Kindergarten und aus der Schule abholen, und am Wochenende würden sie ganz bei dir wohnen, dein Essen essen, deinen Geschichten und deiner Musik lauschen. Du warst überzeugt, dass du ihnen die wahren Werte beibringen würdest, als meine rüstige, große weise Mutter. Doch jetzt hast du weder mich noch sie, und du hoffst, dass das nicht zwanzig Jahre lang so bleiben wird.
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In einem von Oxytocin getränkten Moment vertiefte ich mich in des Ritters Gestalt und seinen Blick, der noch immer anklagend und finster war, doch sah ich jetzt Müdigkeit unter den Lidern, unter der Haut, die von Verletzung und Enttäuschung gestresst war, dort fand ich den Schatten von Julien Sorel, der ihn durch die schwere Kindheit und frühe Jugend gerettet hatte, ihn zwang, so früh wie möglich aus dem für ihn vorgezeichneten in das von ihm selbst erdachte Leben zu fliehen, und ich sah, dass er besorgt war, mit bedrücktem Herzen, und dass auch er, genau wie ich, lieber in seinem eigenen Zuhause wäre, doch Zuhause war weit weg, er war im falschen Land. Doch er gab nicht auf, versammelte überall immer irgendwelche Leute um sich, spendierte ihnen Mittagessen, Abendessen, als wären wir Einheimische und Gastgeber, wo auch immer wir uns gerade befanden. Er gehört mir, dachte ich mir dann, und ich gehöre ihm, alle anderen sind nur eine Menschenmenge, die er beharrlich an den Tisch lädt, und wie in dem Haus, das wir zurückgelassen haben, gibt er ihnen scheinbar den Vorrang vor mir, aber so ist es nicht. Würde ich jetzt hier am Tisch ohnmächtig, brächte er mich ohne nachzudenken ins beste Krankenhaus dieser oder einer anderen Stadt und würde alle möglichen Tests bezahlen; es ist nur so, dass ich nicht ohnmächtig werde, sondern alles ertrage wie ein Maultier, weil ich nach wie vor an ihn und seine Einschätzungen glaube. Denn er ist zwölf Mal um die ganze Welt gereist. Deshalb ließ ich immer wieder zu, dass wir uns schnell versöhnten, uns ein neues Hotel nahmen, in dessen Lobby wir uns wieder küssten, während die Kinder auf dem Sofa oder im Kinderwagen schliefen und die Rezeptionistin unsere Daten eingab, mein Name ist immer derselbe, bei seinem ist das nicht der Fall, er hat mehrere Namen und Reisepässe, denn der Feind darf ja nicht wissen, wo er abgestiegen ist. Mir ist das alles egal, ich hatte nie Angst vor so etwas, ich hatte keine Zeit, um Angst zu haben, und die Kinder sollten das auch nicht spüren, dachte ich, dass das Land ihrer Wurzeln ihnen nicht wohlgesonnen war, dass ihr Vater in diesem Land einer der ersten auf der Abschussliste war. Mein Mann und ich verständigten uns mit immer weniger Worten, wir bestellten schnell und geschickt Essen und Wein in Restaurants, wo der Mann, für den Anlass immer tadellos gekleidet, mit dem Rücken zur Wand saß, mit Blick zum Eingang, und ich ihm gegenüber, mit Blick auf ihn, mit einem Kind auf dem Schoß, in einer Bluse in der falschen Farbe, denn sie war nicht schwarz, und die ich nicht wieder anziehen würde, weil sie unwiderruflich ruiniert war durch einen Soßenfleck, vom Teriyaki-Hähnchen oder einem anderen Experiment mit nicht auswaschbaren Lebensmitteln, zum Beispiel einer Soße aus schwarzen Oliven, Artischocken und Erdnüssen.
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Unsere Kinder sind brav und still, in Restaurants, in Hotellobbys oder Flugzeugen, sie sind solche Räume gewohnt. Sie haben ein paar meiner Eigenschaften geerbt, die ich an mir selbst nicht mochte, wie die Neigung, ins Leere zu starren, gepaart mit einem plötzlichen Stimmungsabfall, dann diese völlige Abwesenheit, die man oft beiläufig kommentierte und Schüchternheit nannte. Mein Sohn wäscht sich die Hände zu sorgfältig, meine Tochter zieht den rechten Schuh an den linken Fuß und umgekehrt. Irgendwo habe ich gelesen, dass exzentrische Kinder dazu neigen und mir gedacht, o nein, nicht noch mehr Exzentrizität in meinem Leben! Doch wenigstens ist es auf Reisen mit den beiden nie peinlich; mein Sohn und meine Tochter kreischten nie wie die anderen Kinder, nie, wirklich nie, noch nicht mal als sie Zähne bekamen oder Mittelohrentzündungen hatten, doch es kam vor, dass sie einfach aufstanden und irgendwo hingingen, ganz entschlossen, ohne sich umzudrehen, als hätten sie die Absicht, uns, ihre Eltern, für immer zu verlassen. Diese Entscheidung konnte ich durch Glück und Mutterinstinkt an der Art und Weise erkennen, welche Haltung sie mit Rücken und Hinterkopf einnahmen, sie gingen dann aufrecht und geräuschlos, als würden sie mit zackigem Armwedeln schweben. Ich rannte ihnen dann nach und zog sie mit kräftigem Griff zurück, während sie sich nur durch ihr verkrampftes Gesicht und mit dem Körper wehrten, weiterhin ohne Geschrei.
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An etwas mussten wir uns festklammern, mein Mann und ich, und meist war das die nasse Straße des Glücks, auf der durchs Gebirge geschlagenen Autobahn, wenn der Mann beispielsweise in Richtung Dolomiten fuhr, wo wir mit Sicherheit niemals zu Hause sein würden, wir fuhren nur dorthin, weil der vorige Ort ihn zu ersticken drohte. Und auf einmal kam Regen aus heiterem Himmel, der Mann drehte sich zu mir und den Kindern um. Ich lächelte, denn ich wusste, was er sagen wird.
Kennst du diesen italienischen Spruch, wird er sagen. Strada bagnata, strada fortunata. Im selben Moment wird diese zu einer weiteren gebadeten Straße des Glücks, einer der Hauptzutaten unserer Ehe. Über all diese Straßen fährt der Mann, ohne GPS, ganz selbstbewusst, denn schließlich hat er ja zwölf Mal die Welt umrundet. Und nun tut er es zum dreizehnten Mal, mit uns im Auto. Die Erinnerungen an unsere langen Fahrten werden die Gerüche der anderen Zutaten begleiten, der einzigen Zutaten, an die man sich in der Fremde halten konnte und musste, landwirtschaftliche Zutaten, am Gaumen klebende Zutaten, so wie die vertraute Besonderheit der Landzeit-Restaurants am Wegesrand, junges Olivenöl mit Rosmarin, Zimtklumpen in der noch warmen Orangenmarmelade in der Wohnung der Frau Thurnher, Wein aus den Regionen durch die wir reisten und reisten, ohne Heim, mit zehn Taschen im Kofferraum.