Aus dem Kroatischen übersetzt von Anna Sophie Schwendinger
Mein Sohn spricht nicht. Als er ein Jahr alt war, genau an seinem ersten Geburtstag, saßen wir alle am Tisch versammelt und warteten auf sein erstes Wort. Er gluckste, gab einsilbige Knalllaute von sich, aber er sprach nicht. Wir glaubten, es lag vielleicht an der Angst, die er bereits im Mutterleib verspürte, jedes Mal wenn eine Explosion zu hören war. Eine Rakete traf unser Haus. Andere Raketen trafen andere Häuser. Meine Frau sagte, unser Sohn leide vielleicht an diesem EinsteinSyndrom, er beginne vielleicht ein wenig später zu sprechen, sei dann aber ein Genie. Ich sagte, wir können nicht länger in Angst leben. Meine Frau ist kränklich und zerbrechlich, aber stark. Ohne ihre entschlossene weibliche Kraft im Haus hätten wir nichts, auch nicht das Haus, auf das die Rakete fiel. Ich nahm unser gesamtes erspartes Geld und geerbtes Gold, wickelte es in ein Tuch und befestigte es an meinem Gürtel. Wir hatten durchaus einiges, so ist es ja nicht. Hier beginnt unsere Reise. Wir mussten so weit weg wie möglich, weit entfernt von unserem Haus, weit entfernt von der Bombe. Ein Verwandter von uns war schon vor langer Zeit in die Schweiz ausgewandert. Er schickte uns einige Ansichtskarten. Auf ihnen glitzerten dicht miteinander liegende Berge in der Sonne. Damals sah dieses Land schön und fern aus, jetzt sieht es nur wie eine blanke Notwendigkeit aus. Irgendwie werden wir ihn dort schon wiederfinden. Das Land ist nicht groß.
Eine Weile reisten wir mit hunderten Anderen, sie waren uns ähnlich, ähnlich durch die Angst in ihren Gesichtern, die abgetragene Kleidung, das schmutzige Haar und die müden Beine. Dann blieben wir allein zurück. Unsere Vorfahren waren Nomadenstämme gewesen und wir suchten in uns dieses Blut der Nomaden, die Wüsten und Berge bis zu einem neuen Zufluchtsort durchqueren, doch in unseren Erinnerungen fanden wir nur Spaziergänge in Parks und an Seen, reiche Läden und Schulen, Restaurants und Händler auf weißen Straßen.
Mein Sohn spricht immer noch nicht. In den Pausen zwischen Fußmärschen, Autobusgerüttel, Pick-ups und Zügen erzählen wir ihm von Gott und der Welt, aber meistens von der Schweiz. So viel wir eben wissen. Dort kann man vielleicht so leben, wie man früher in unserer Stadt lebte. Svizzera, Svizzera wiederholen wir unserem Sohn, als wüsste er, wo das ist, als wüsste er, woher wir kommen. Er aber sieht uns mit seinen kleinen schwarzen Augen an, lacht und gluckst, manchmal weint er. Er liebt alles mit Schokoladengeschmack, das entdeckten wir in Italien, wo wir uns zu lange aufhielten. Das Gold brauchten wir in den letzten zwei Monaten auf, in denen wir Komplikationen an den Grenzen entlang der Flüchtlingsrouten vermieden. Es waren noch genug Dollars übrig, um die Reise zu Ende zu führen, allem Anschein nach ihre schwierigste Etappe, gerade dort, wo wir sicher gewesen waren, wir könnten leicht passieren. Svizzera, Svizzera wiederholen wir. Und warten. Für uns sind die Straßen versperrt, die Schweiz gewährt Migranten, Asylanten und Geflüchteten keinen Zutritt mehr. Seltsam, dass sie meinen Sohn und meine Frau Migranten nennen, während ihre Söhne nur Söhne sind, Mütter nur Mütter und Väter nur Väter. Auf dem Mailänder Bahnhof lernte ich zwei Männer kennen, einen von uns und einen von ihnen. Es war ein kalter Morgen, als ich sie bemerkte. Der Ältere trug die Mütze tief ins Gesicht gezogen und zerschlissene Bergstiefel an den dünnen Beinen, er sah aus wie ein merkwürdiger Vogel, ähnlich wie ein Storch, und der Jüngere, Kleinere verschwand beinahe in seiner Jacke mit den viel zu langen Ärmeln, die ihn beim Anzünden seiner Zigarette im Weg waren.
Sie sind erfahren, erkennen in mir einen Ausländer und beginnen sofort ein Gespräch. Ihr Angebot war völlig klar. Sie kennen einen Weg über die Berge, über den man die Grenze passieren kann. Wir verhandeln den Preis, der Lange zieht seine Mütze tiefer ins Gesicht, reicht mir die Hand und lacht. Unser Handel ist besiegelt, den ersten Wegabschnitt legen wir in ihrem Kombi zurück und weiter zu Fuß, so Gott will. In drei Tagen sind wir auf der anderen Seite, wenn wir uns beeilen. Wir müssen uns beeilen, das ist das Wichtigste. Der Winter steht vor der Tür.
In einem Gehölz nahe dem Dorf Santa Maria Maggiore rauchen wir auf einem verlassenen Weg, während sie mir eine Landkarte zeigen, eine große Karte für Touristen, auf der Linien mit einem roten Filzstift eingezeichnet sind. Eine Gebirgswand dehnt sich vor uns aus und der Jüngere zeigt auf einen waldreichen Gebirgspass in der Ferne. Meine Frau ruft mich. Sie sagt, dass unser Sohn spricht. Er lacht, wälzt sich auf dem Boden herum und gibt einen Laut so ähnlich wie „Swiza“ von sich. Sein erstes Wort ist nicht Mama, nicht Papa, sein erstes Wort ist das Land, das uns erwartet. Svizzera. Eine kalte Träne schießt über meine Wange. Gott ist groß. Engumschlungen beben wir vor Schluchzen und begeben uns in das morgendliche Grenzgebiet.
Am ersten Tag legten wir einen großen Teil des Weges zurück bis zu einer Holzhütte, in der wir übernachten sollten. Über dem Gebirgspass kippte gerade die Sonne auf die andere Seite und überließ den Himmel einem Galopp finsterer Wolken. Das Feuer erwärmte den winzigen Raum schnell und wir kauerten uns in einer Ecke zusammen, während sich unsere Bergführer flüsternd in der anderen stritten. Am Morgen entdeckte ich auf einem Holztisch die aufgefaltete Landkarte und vor der Tür zeigten die Stiefelspuren im ersten Tiefschnee die Richtung, in die unsere Bergführer den Rückweg nach Santa Maria Maggiore angetreten hatten. Schmugglerpack! Die Angst schlich uns noch tiefer in die Knochen.
Durch Schnee stapfen ist wie durch Sand waten, und ich kenne das gut, wie der Fuß bei jedem Schritt in der weichen Oberfläche versinkt, wie es einiger Anstrengung bedarf, ihn wieder herauszuziehen und wie sich diese Anstrengungen anhäufen, um dann gegen Tagesende immer größer zu werden, die Schritte aber immer schwerer fallen. In meinem Arm trage ich unseren Sohn in ein anderes Land, in dem es kein Schießen und keine Raketen gibt. Meine Frau folgt meinen Fußstapfen. Es fällt ihr schwer, aber sie gibt nicht auf, schleppt sich zittrigen Schrittes weiter und ruft mir Worte zu, die neue Kraft geben. Nur vorwärts, vorwärts.
Niemals hatte ich sie geschlagen. Auch nicht damals, als uns die Dorfältesten empfahlen, wann, wie und warum man eine Frau züchten könnte und sollte. Ein religiöser Lehrer zeigte uns, welche Gerte man benutzt, um eine Frau zu bestrafen und welche, um sie zu erziehen. Alles war in diesen Lektionen klar, aber dennoch vermochte ich es niemals, die Hand gegen sie zu erheben, trotz des Spottes der anderen, ich sei zu einem Schwächling geworden, trotz der Anschuldigungen, ich befolge nicht die Gebote unseres Glaubens.
Die Schritte werden immer schwerer, der Wind ist feucht und dringt unter unsere Ärmel bis in die verschwitzten Achselhöhlen vor, Wege gibt es keine mehr und die auf der Karte eingezeichnete Linie ist längst verschwommen, beinahe unwirklich. Mein Sohn weint unter dem Mantel, sein von einem Wollschal verdecktes Gesicht sehe ich nicht und lediglich von Zeit zu Zeit lege ich meine Lippen an seine und flüstere ihm zu, noch ein bisschen, noch ein bisschen.
Felsbrocken ragen immer glatter und schärfer, roher und unbarmherziger vor uns in die Höhe. Die dunklen Konturen der Felswände vergleiche ich mit denen auf der Karte, während der Schrecken mir immer mehr die Kehle zuschnürt. Unter einer Schrägwand schichten wir auf dem gefrorenen Boden Zweige zu einem Haufen. Die Mutter meines Sohnes wiegt sich zitternd vor und zurück und spricht Gebet für Gebet, immer dasselbe. Unser Sohn nuckelt an einer Schokolade, während ich ein stinkendes Feuer aus grünen Zweigen entzünde, das Husten und Brechreiz auslöst. Wir warten auf den Morgen.
Hier gibt es weder Abenddämmerung noch Morgenrot. Es gibt nur Licht und Dunkelheit. Neue Schritte, Stolpern, Meter für Meter bezwingen wir die Steigung, immer steiler und rutschiger. Die Hälfte des Weges haben wir bereits zurückgelegt, es gibt kein Zurück mehr, nur ein vorwärts. Mein Sohn weint in meinem Arm, versucht gar nicht mehr sein Swiza auszusprechen. Er ist hungrig, ihm ist kalt, warum nur haben wir uns auf diesen Weg begeben, sterben hätten wir auch zu Hause können. Anstatt einer Lawine, die droht auf uns niederzugehen, hätte auch eine Rakete in unserem Schoß landen können, Gott hätte uns gleichermaßen in den Arm genommen, getröstet und empfangen.
Die Kälte wird unerträglich, sie beißt auf der Haut, verkrampft die Muskeln, Schneewolken entleeren sich über die Berge, ich stolpere zum weiß Gott wievielten Mal und richte mich zum weiß Gott wievielten Mal wieder auf. Hinter meinem Rücken höre ich meine Frau, wie sie betet und betet, immer im Kreis, immer wieder von vorne, bis ich einen gedämpften Schrei vernehme, wie vor Scham unterdrückt. Ihr Bergschuh war zwischen zwei Felsen steckengeblieben, die Müdigkeit hat ihre Reflexe betäubt und jetzt sitzt sie im Schnee mit einem gebrochenen Bein, das immer stärker anschwillt, bis es sich in einen aufgeblasenen blauen Ballon verwandelt.
Ich knie neben ihr, sie streichelt unseren Sohn und weint. Auch ich weine. Ich trage beide. Meinen Sohn an der Brust und meine Frau auf den Schultern. Sie stöhnt und beißt sich die Lippen blutig, betet laut und ruft hinauf gegen den Himmel. Die Schritte sind kürzer, nur vorwärts bis in die Schweiz, bis nach Swiza. Die Berge erdrücken mich, ich bin nicht dafür geschaffen, drei Personen zu tragen, selbst nicht mit Gottes Hilfe. Immer öfter bleiben wir kurz stehen.
Als junger Mann hörte ich Geschichten von Bergvölkern, wo die rauhe Natur rauhe Gesetze hervorbrachte. Das Stammesgesetz besagt, man müsse die Mutter retten, auch um den Preis, das Leben des Kindes zu opfern. Die Angst auszusterben ist größer als die Angst zu sterben. Ich schließe meinen Sohn fester in die Arme, küsse seinen durchfrorenen Nacken, er gibt nicht mehr diese kurzen Silben seines ersten Wortes von sich, sondern lugt lediglich unter seinem Wollschal hervor. In der Wildnis sind die Menschen Verluste gewöhnt, Rohheit ist etwas Alltägliches, vom Tod spricht man wie von der Geburt. Indem man die Mutter rettet, sichert man den Fortbestand des Geschlechts, Kinder werden weiter geboren, der Stamm lebt fort. Ich drücke mein einziges Kind noch fester an meine Brust. Meine Frau hängt beinahe bewusstlos an meinem Rücken, während ich in gerechtfertigtem Zorn gegen Allah und seine Engelschar neue Kraft schöpfe, die uns alle drei vorwärts zieht. Doch die Sonne versinkt schneller über diesem Durchgang, als wir ihn durchqueren. Kippt sie auf die andere Seite, wird es stockdunkel sein. Ich baue noch einen Unterschlupf, es gibt immer weniger Zweige und ich träume von den Flammenspuren der Projektile, die Himmel und Erde versengen.
Meine Frau kann ihre Augen am Morgen kaum noch öffnen, ich denke, sie war die ganze Nacht bewusstlos vor Schmerz, sie ist bleich wie Schnee, ihr Bein ist aufgebläht, der Hosenstoff bis zum Bersten gespannt. Ich hebe die beiden auf und gehe weiter. Das erste Mal, das zweite Mal, das dritte. Ich verfluche diesen Gott, zu dem meine Frau im Delirium betet, möchte allein ihm zum Trotz auf die andere Seite gelangen. Auf allen Vieren kriechen wir eine Felskante entlang. Manches Bergvolk in weit entfernten Landstrichen opfert seine Nachkommen, damit die Familie weiterlebt. Ich wickele den Wollschal vom Gesicht meines Sohnes, um seine kalten Lippen zu küssen. Er gleicht meinem Vater. Seine Mutter bohrt ihre Nägel fest in meine Handfläche, sieht mich lange mit ihren schönen schwarzen Augen an, streichelt den kleinen Kopf unter dem Schal, haucht ein kurzes „Bismillah“ und wirft sich in eine Felskluft. Ihr Körper prallt beinahe geräuschlos gegen die feuchten Felswände und lediglich ein schauriges Knacken begleitet jeden zersplitterten Knochen.
Ich atme nicht. Mein Blick stürzt ihr in die Tiefe hinterher, als könnte er sie wieder herausziehen, zu uns, auf den Schnee, auf diesen Gebirgspass auf einem Berggipfel, hinter dem die Schweiz liegt. Mein Sohn und ich bleiben allein zurück, so wie Ibrahim und Ismail. Gott der Allmächtige ist nicht mehr bei uns. In der Wildnis sind die Menschen Verluste gewöhnt. Der Wind wird immer stärker, die Steigung immer steiler, ich halte dieses Bündel an meiner Brust und singe all dem zum Trotz. Wir werden in dieses verdammte Land gelangen, getragen von der Liebe der Frau, die jetzt in der Kluft liegt. Mein Sohn spricht, weint und gluckst nicht. Er schläft und träumt von dem Bild auf der Postkarte, die uns der Onkel vor langer Zeit schickte. Ich bleibe seltener stehen, die Füße lösen sich kaum mehr vom Boden, aber dennoch gehe ich vorwärts. Heute werde ich ihn überqueren. Meine Füße sind wund und völlig durchfroren. Die Schneeflocken sind Nadeln aus Eis, die sich tief unter die Haut bohren, durch den Stoff, die Handschuhe und die Mütze.
Die andere Seite des Gebirges erreichten wir noch vor Einbruch der Nacht. Bergabwärts fällt es mir zeitweise leichter, auf dem Hintern zu rutschen. Mein Sohn schläft und ich gehe weiter. Wenn ich stehen bleibe, komme ich nicht mehr vom Fleck. Der Schnee ist weicher, die Wolken haben den Mond freigegeben, damit er über den Himmel tanzt, während ich durch eine schneeverwehte Schneise hinunterrutsche. Vorwärts. Bis zum Morgen erreichen wir vielleicht mit Müh und Not den Wald. Svizzera. Mein Sohn wird seine ersten Worte in diesem verfluchten Land ohne Mutter sprechen. Wenn er aufwacht, wird er die Sonne und die grünen Almen sehen, von denen sie ihm erzählte. Aus der Erinnerung an sie ziehe ich Kraft. Niemals habe ich sie geschlagen. Diese scharfe Felswand schlug sie stellvertretend für alle Schläge gegen alle Frauen dieser Welt.
Der Morgen naht. Ein Warnschuss klingt genau wie ein Todesschuss. Alle sind gleich, wenn du aus einem Land kommst, in dem man in der Schule und im Krankenhaus Waffen trägt. Ein großer Hund und Menschen in weißen Uniformen stürzen aus dem Wald vor uns. Alle haben Gewehre, genau wie auf dem Markt vor unserem Haus. Ich hebe die Arme, deute auf den Wickel an meiner Brust und schreie: Sohn, Sohn! Mein Sohn schläft unter dem Wollschal, sieht nicht die gefletschten Eckzähne der Hunde und die langen auf uns gerichteten Gewehrläufe.
Wie der Lange und der Tollpatsch auf dem Mailänder Bahnhof, sind auch diese jungen Männer in den weißen Uniformen erfahren. Sie wissen, dass wir in die Schweiz wollen, aber das gefällt ihnen nicht gerade. Sie decken mich mit einem warmen Mantel zu, setzen mich auf lange Skier und gleiten langsam zu einem Wald hinunter. Einer von ihnen spricht über Funk mit jemandem in der Ferne, andere halten mich, und alles scheint leicht in dieser Schweiz. Nach einiger Zeit nähert sich uns ein Motorschlitten aus dem Tal. Der Mann auf dem Schlitten trägt eine feuerrote Uniform. Er sagt, er sei Arzt und möchte mir meinen Sohn abnehmen. Nein, ich kann ihn jetzt nicht weggeben, während er schläft. Sobald wir in die Stadt kommen, wenn er aufwacht und ich ihm ein Frühstück mit heißer Schokolade zubereite, damit er nicht hungrigen Blickes nach seiner Mutter fragt, darf er auch zu dem Mann in der roten Uniform, und dann können sie auf Schlitten über beschneite Hänge brausen, so viel es ihr Herz begehrt. Der Arzt sagt, dass mein Sohn tot ist. Nein, dieser Schweizer Arzt kann das gar nicht wissen, nicht alles in diesem Land ist so gut, wie es der Onkel auf seinen Postkarten schilderte. Er in seiner roten Uniform kann nicht einmal annähernd wissen, wie süß mein Sohn gestern an seiner Schokolade nuckelte und einmal beinahe Swiza sagte! Mein Sohn schläft. Mein Sohn spricht nicht.