Foto: Privatarchiv

Aus: Stefan Bošković: Der Minister; übersetzt von Elvira Veselinović. Berlin: Eta Verlag. 2022.

Ich schaffte es gerade noch so, mich auszuziehen; nur noch im Hemd kroch ich ins Bett. Das Telefon klingelte. Ich ging ran. Der Rezeptionist flüsterte mir zu, eine Dame namens Petra sei an der Rezeption und wolle mit mir reden. Ich sagte, das sei leider nicht möglich und legte auf. Das Trommeln in meinem Kopf wurde zu einem Pfeifton, der meine Nebenhöhlen zu sprengen drohte. Jemand klopfte an die Tür. Ich stand auf und ging auf Zehenspitzen näher heran. Das Hämmern wurde stärker, man hörte Männerstimmen, die eine Zeitlang mit Petra kämpften und dann verstummten. Ich ging ins Bett zurück und steckte den Kopf unters Kissen.

Schon bald bekam ich auch auf dem Handy einen Anruf, was ich als Zeichen deutete, es auszuschalten. Wegen starker Kopfschmerzen konnte ich nicht einschlafen. Ich wälzte mich stundenlang im Bett herum, verkrampfte meinen Körper, aber das Getöse in meinem Schädel ließ nicht nach. Ich richtete mich auf und schaltete mein Telefon wieder ein. Augenblicklich kamen Benachrichtigungen über verpasste Anrufe, und es klingelte direkt wieder. Auf dem Display stand eine montenegrinische Nummer, doch ich ging nicht ran. Ich vermutete, dass Petra weitere SIM-Karten nutzte. Mittlerweile klingelte es ununterbrochen. Meine Wut nahm zu, und beim dritten Mal meldete ich mich.

– Herr Valentino Kovačević?
– Was fällt Ihnen ein, um zwei Uhr nachts anzurufen?!
– Wir rufen aus dem Klinischen Zentrum in Podgorica an. Ihr Vater ist heute Nacht verstorben.

Ich hielt den Hörer vom Ohr weg. In meinem Kopf waren alle hohen Töne jäh verstummt. Die Lüftungsanlage produzierte ein monotones Rauschen und schmetterte heiße Luft gegen meine Stirn. Ich nahm den Hörer wieder zurück ans Ohr.

– Bitte?
– Er hat einen schweren Herzinfarkt erlitten, wir haben versucht, ihn wiederzubeleben, aber erfolglos.
– Wann … wann ist das passiert?
– Sie haben ihn vor zwei Stunden hergebracht.
– Wer hat ihn gebracht?
– Eine Frau, ich glaube, sie hieß Jasna.
– In Ordnung. Ich … ich muss jetzt auflegen.
– Es tut mir leid, Herr Kovačević. Mein herzliches Beileid.

Die Verbindung brach ab. Ich blieb wie erstarrt mitten im Zimmer stehen, das Handy ans Ohr geklebt. Ein warmer Strahl rann an meinem linken Oberschenkel hinab. Auf der Suche nach einem klaren Gedanken taumelte ich durchs Zimmer, aber das Einzige, was in meinem Schädel widerhallte, war eine Endlosschleife des Satzes »Ihr Vater ist heute Nacht verstorben.« Ich rief sofort den Kabinettschef an, er solle mir den nächsten Flug nach Podgorica buchen. Der erste mögliche Flug war erst am nächsten Abend. Zu spät. Ich traute mich nicht, den Premierminister anzurufen, wegen der Medienattacken, der frischen Mittäterschaft beim Mord und all dem Verrat, den ich mir hinter dem Rücken der Partei zuschulden kommen lassen hatte. Dragutin! Wenn er mir schon nicht helfen konnte, erhoffte ich mir zumindest irgendeinen brauchbaren Rat. Er ging sofort ran, war jedoch wegen der dröhnenden Hintergrundmusik kaum zu verstehen. Ich legte auf. Ich ging ins Bad und wusch meine vollgepinkelten Beine ab. Ich setzte mich an den Rand des Bidets und zögerte noch, Ranko Prediš anzurufen. Im Internet war nichts über die Preise von Privatflügen zu finden. 10.000 Euro? 15.000? 20.000? Ich wog das gegen die Wichtigkeit von Vaters Tod ab. Was, wenn Ranko mich abblitzen ließ? Es lag eine gewisse Logik in dem Gedanken, nach allem, was Vater ihm neulich an den Kopf geknallt hatte. Ich rief ihn trotzdem an. Er hob nicht ab. Ich ließ mich in den Sessel fallen und starrte an die Decke.


Handyklingeln riss mich kurz vor dem Morgengrauen aus dem Schlaf. Es war Vukašin, ein entfernter Cousin meines Vaters. Ich erfuhr, dass Jasna meinen Vater im Krankenhaus schon umgekleidet und die Bestatter ihn von dort aus in die Friedhofskapelle überführt hatten. Vukašin fragte, wann ich denn käme, ich log, dass ich so gut wie unterwegs sei. Mich quälte der Gedanke, die ganze Beerdigung von unterwegs organisieren zu müssen. Ein anderer Anrufer klopfte an. Es war Ranko. Ich unterbrach das Gespräch mit Vukašin und meldete mich sofort.

– Zwei Uhr nachts? Das muss ja dringend sein, Kovačević.
– Mein Vater ist gestorben.

Er schwieg, ich wartete, bis er fortfuhr.

– Wie kann ich dir helfen?
– Ich weiß nicht, wie ich nach Podgorica kommen soll. Der nächste Flug geht erst um acht Uhr abends.
– Ich ruf dich gleich wieder an.

Ich ging unter die Dusche, ohne mich auszuziehen. Ich hielt den Kopf unter einen kalten Wasserstrahl, während ich auf Rankos Anruf wartete. In der Zwischenzeit stopfte ich meine Sachen in den Koffer und ging hinaus in den Flur. Ich bemühte mich, Mašan zu wecken, aber die Ratte reagierte nicht. Olivera machte sofort nach dem zweiten Klopfen auf und brach in Tränen aus, als ich ihr erzählte, was geschehen war. Ranko rief an.

– Valentino, da ruft gleich jemand von Sun Air an, es gibt einen Direktflug in zwei Stunden.
– Ranko, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Sobald ich da bin …
– Mach dir keine Gedanken über die Kosten. Das geht auf mich.
– Danke.
– Wir hören uns. Melde dich, wenn du noch was brauchst.


Olivera leistete mir an der Bar Gesellschaft, während ich auf den Fahrer wartete. Ich entschuldigte mich bei ihr für die letzte Nacht und den verzweifelten Versuch, sie zu küssen. Sie beteuerte, sich an nichts zu erinnern. Sie schlug vor, mit mir zu fliegen. Es fiel mir nicht schwer, sie davon abzuhalten, da ich sie jetzt nicht wirklich gebrauchen konnte.

– Es ist besser, du schläfst dich aus. Ich schaffe das schon, Olivera.

Der Fahrer kam, im selben Moment standen wir auf und umarmten uns, als gingen wir für immer auseinander. Aus ihrem Körper strömte ein gedämpfter Geruch nach Alkohol und einer fruchtigen Hautcreme, wodurch mein Schwerpunkt ins Wanken geriet. Ihre Haut war warm, als wäre ihr Körper noch nicht wirklich wach. Plötzlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich sie möglicherweise lieben könnte. Beständig und süßlich, so wie sich die Familien auf den Titelseiten der Elternzeitschriften liebten. Ich küsste ihre weiche Stirn und ging los.


Im Flugzeug kam ich mir vor wie im Inneren einer Pralinenschachtel. Sechs braune Ledersitze und Bezüge mit Blümchenmuster. Die Stewardess goss regelmäßig Whisky nach. Vom Essen nahm ich keinen einzigen Bissen, mein Magen hatte sich auf Faustgröße zusammengezogen. Das WLAN funktionierte fast während des gesamten Fluges. Ich telefonierte die ganze Zeit mit Vukašin und kam überhaupt nicht dazu, an meinen Vater zu denken. Der Plan war, ihn in einem Eichensarg ohne Aufschrift bestatten zu lassen. Dann sammelten wir die Namen der Hinterbliebenen, die auf der Todesanzeige stehen mussten. In einem Schreiben ans Ministerium, genauer gesagt an den weiblichen Teil der Belegschaft, bat ich darum, dass sie sich um Blumen kümmern sollten. Während ich Vaters Foto auf dem Handy zuschnitt, um es für den Druck vorzubereiten, benachrichtigte Vukašin unseren Verwandten Mitar, er solle die Nachricht verbreiten und Todesanzeigen in Grahovo verteilen. Meine Mutter musste versorgt, also in meine Wohnung gebracht werden, bis ich wieder da war. Der Laptop fühlte sich warm an in meinem Schritt; willkürlich tippte ich irgendetwas, das eine Trauerrede werden sollte. Eine volle halbe Stunde starrte ich auf die verpassten Anrufe von gestern Abend. Einer von Vater war auch darunter. Was er mir wohl hatte sagen wollen? Valentino Kovačević, verflucht sollst du sein! Ich öffnete ein neues Dokument auf dem Rechner.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des eta Verlag, Berlin