Foto: Roko Crnić

Auszug aus dem Roman „Pod oba sunca“ („Unter den beiden Sonnen“), erschienen 2020 im Verlag Fraktura, Zagreb (im Original ab S. 57). Aus dem Montenegrinischen von Maša Dabić.

Ich liebe ja Danica, meine Danka. Ist nicht so, dass ich sie nicht liebe. Während sie auf dem Dreisitzsofa schläft, nimmt ihr Gesicht die Konturen ihrer früheren Schönheit an. Manchmal verspüre ich den Wunsch, ein Kopfkissen zu nehmen und ihrem Herumwaten im Schlamm ein Ende zu bereiten. Diese Lüge, die sich über uns gestülpt hat und uns zwingt, sie als ein Leben zu bezeichnen. Ich würde stark zudrücken und zusehen, wie ihr Körper Zuckungen vollführt, so lange, bis der letzte Atemzug ihre Lungen verlassen hätte. Ich bin gar nicht mal sicher, dass sie sich wehren würde. Sollte sie dasselbe bei mir zu tun versuchen, würde ich die Arme neben meinem Körper ausstrecken und ganz fest meine Daumen drücken. Ich weiß, ich kann in keinem Leben aufwachen, das schlimmer wäre als dieses hier.

Ich glaube nicht an Gott. Oder ist es aufrichtiger zu sagen, dass ich Gott nicht glaube? Alles, was passiert ist, gibt mir das Recht, reinen Herzens beide Sätze auszusprechen und auch Gott zu verfluchen. Denn wir waren glücklich gewesen: haben die Farbe der Vorhänge und die Form der Kristallgläser ausgesucht. Haben sieben Tage auf der Insel Vis verbracht, und weitere sieben in Opatija. Wir badeten nackt und verbrachten die Sommerabende auf der Terrasse des Hauses der Jugoslawischen Volksarmee in Titograd. Ein Kellner lief herbei, verbeugte sich, machte uns den Weg frei, um uns zum allerbesten Tisch zu führen. Die Soldaten standen auf und salutierten. Mehrere Male tanzten wir. Sie hielt mich an der Taille und legte ihren Kopf an meine Schulter. Ich spürte ihren warmen, geschwollenen Bauch. Ich glaube, das Kind schlief und schaukelte hin und her, eingeengt zwischen den Körpern seiner lachenden, jungen Eltern. Pančo Merulić sang Mama Juanita, und ich spürte die Bewegungen des kleinen Körpers unter ihrem Kleid. Ich hörte bis zum Ende des Liedes, meine Hand an Dankas Bauch, und beim Crescendo schlug ich mit der Faust auf den Tisch. Sie tat es mir nach, beschwipst von einem Schluck Wein. Ich küsste sie, und fast kamen mir die Tränen, so berauscht war ich von diesem einen Augenblick, in dem alles an seinem richtigen Platz war.

Aber das ist nicht die Geschichte. Ich diente ehrenhaft. Danica war immer bei mir. Bei mir, der ich nun einmal so bin, wie ich bin. Wäre ich Danica, wäre ich längst davongelaufen. Dick, fettig und nach Schnaps stinkend, wie ich bin. Knirschende Knie, die Lungen – ein alter Sack, und die Haare, ach, die Haare. Das Alter lauerte mir auf der Kurve von Morinj nach Strp auf. Es schlich sich in der Dunkelheit heran, schwer und klebrig, es verfing sich zwischen meinen Beinen, fesselte meine Hüften, dann kroch es mir den Rücken hinauf. Dort drüben sind die Höhlen. Reiner Kalkstein. Das tropfende Wasser bohrt Löcher im Gestein. Diese schauen auf die Straße wie leere Augenhöhlen. Danka wusste nicht, dass ich von der Kaserne bis zur Wohnung zu Fuß ging. Gute vier Kilometer und noch mehr. Die Farce vor der Kommission hatten wir hinter uns gebracht. Wieder hatte man mich eingesperrt, ich musste auf die Entscheidung warten. Aus der Baracke drang Gelächter. Alle grinsten. Menzalin, Zirojević, Lučić. Auch Vladimir lachte. Seine Stimme würde ich noch bei hundert Meter Gegenwind erkennen. Es war dann Menzalin, der die Tür aufsperrte. Er sagte, ich sei frei, ich könne nun nach Hause. Er sagte, ich hätte mir nichts zuschulden kommen lassen, ich hätte niemanden verarscht, er sagte, die Zeiten seien nun einmal so, und er würde nun die Bohnensuppe aufwärmen, sodass ich mich stärken könnte. Sobald er sich entfernt hatte, lief ich zu der Baracke. Die Soldaten schliefen. Ich stopfte meine Sachen in zwei Taschen und lief schnurstracks hinunter, über den Zaun drüber. Menzalin hatte gesagt, Vladimir würde in einem Fiat Campagnola vor dem Tor auf mich warten, aber an diesem Abend konnte ich seine Gesellschaft nicht ertragen. Nach dem Lachen, nach dem Gegröle, das zwischen den dünnen Wänden widerhallte, wollte ich nur noch allein sein, selbst wenn ich den ganzen Weg bis nach Risan hätte zu Fuß zurücklegen müssen. So war es dann auch. Ich hievte die Taschen über den Zaun, sprang selbst darüber, und dann direkt die Magistrale hinunter. Starker Wind. Ich fror im Hemd. Mein Blick wurde trüb. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Augen. Einige Militär-LKWs verlangsamten ihre Fahrt. Ich winkte ihnen resolut zu, und sie fuhren weiter. Meine Füße begannen bald zu bluten. Sie hatten mir ja die Schnürsenkel aus den Stiefeln entfernt. Also rieb das grobe Leder an der Haut und verletzte mein Fleisch. Ich vergaß auf den Schmerz. Ich dachte nur an Danica, die auf mich wartete, so wie sie war, kurz vor dem Untergang. Ich hatte noch drei Kilometer, genug Zeit, um mich zu sammeln, meine Entscheidungen hinunterzuschlucken und die Zukunft zu betrachten. Ich weiß, was ich getan hatte, und wie sich alles zugetragen hatte. Aber was auch immer ich sagen würde, mein Gewissen könnte ich von dem Dreck nicht reinwaschen. Es handelt sich nämlich nicht um Flecken, und auch nicht um Beistriche, Pünktchen und Tintenkleckse, sondern die Rede ist von einer Scheiße, die so groß ist wie das Partisanendenkmal am Fluss Sutjeska, eine Scheiße, deren Gestank ich in jedem Moment spüre. Zumindest hatte Menzalin sich nicht geziert, seinen wahren Charakter zu zeigen. Als die erste Gruppe gebracht wurde, da langte er kräftig zu. Seine Stimmung hatte sich rasch gebessert, sein Lächeln war anders geworden. Er spazierte von einer Baracke zur nächsten und spähte hinein, als würde er sich frische Zutaten für einen Eintopf herauspicken. Sobald es dunkel wurde, die Lichter ausgingen und die Offiziere weg waren, griff er nach dem Schöpfer. Ich lag da und hörte die Schreie. Die Männer brüllten, riefen um Hilfe, schimpften, flehten die Mutter Gottes an. Am nächsten Morgen stand ich als erster stramm vor dem Masten und weckte alle auf. Die Männer stellten sich auf und salutierten. Alle außer Menzalin. Er tauchte zehn Minuten später auf, mit Zirojević im Schlepptau. Beide rochen nach Schnaps. Sie taumelten und flüsterten sich etwas zu, wie Liebende. „Was ist denn los, Herr Kapitän? Der Dritte Weltkrieg vielleicht ausgebrochen?“ Menzalin lugte hinter seiner Schulter hervor. „Genosse General-Major, ich möchte Ihnen in Erinnerung rufen, die Genfer Konvention verpflichtet zu …“ Der Dicke lachte los. Zirojević schnappte mich am Oberarm. „Ich weiß das alles, mein lieber Lončar. Lass jetzt die Konvention und die Regelwerke. Sag mal, bist du dir dessen bewusst, wo wir sind und was hier abgeht?“ Menzalin schaltete sich ein. „Er weiß nichts, Herr General, gar nichts weiß er. Hätten wir sie etwa in einem Hotel unterbringen sollen? In Einzelzimmern, wenn’s recht ist. Morgenmassage und Mittagessen a la carte.“ Einige Soldaten spendeten zustimmenden Beifall. Zirojević näherte sich. „Ein Mal hast du mich verarscht. In Titograd. Ein zweites Mal machst du das nicht. Lass die krummen Dinger. Hast Frau, Wohnung, Gehalt, dir fehlt’s an nichts. Außerdem bist du am Leben. Siehst du die Truhen, die wir jede Nacht herankarren? Was denkst du? Wer steckt drinnen? Lass die Leute also in Ruhe. Ob jemand einem Ustascha eine gesunde Watsche verpassen wird oder nicht? Das soll mich etwa kümmern?“ „Ich sage ja nichts, Herr Major. Aber es gibt Regeln. Weil wir Menschen sind. Sowohl wir, als auch sie.“ „Du sagst, du sagst nicht. Ich hab alles verstanden, als du damals die Busse angehalten hast. Unsere Burschen dagegen wurden wie Vieh transportiert. In alten LKWs.“ Er dreht sich um zu der Truppe. „Zum Glück gibt es immer anständige Leute, die bereit sind, ihr Leben für die Heimat herzugeben, geschweige denn eine temporäre Nutzung der primären Mobilisationsmittel in Form von Lebendkräften zur Verfügung zu stellen!“ Menzalins Brust schwoll an, ermutigt durch die patriotische Tirade. So fing es an. Tagsüber schien alles einigermaßen geregelt abzulaufen. Wenn die Männer gebracht wurden, erhielten sie eine Mahlzeit und ihre Wasserration. Sie wurden von der Kommission für den Empfang von Kriegsgefangenen bearbeitet, die dafür zuständig war zu notieren, was die Burschen bereit waren zu sagen, aber auch vieles von dem, was sie nicht sagten. Aber wenn die Burschen in der Nacht ankamen, wurden sie vom Teufel höchstpersönlich in Empfang genommen. Ich wälzte mich in meinem Bett hin und her und horchte auf die Schreie, Rufe und Menzalins Lachen. Die Stille trat dann mit der Morgendämmerung ein, und dann ging alles wieder von vorne los, bis zum Anbruch der nächsten Nacht.

Zirojević hatte die Schlüssel zu den Schiffscontainern, in denen die jungen Männer untergebracht waren. Die Nacht verbrachte er in einer Villa direkt am Meer. Jeden Nachmittag begleitete Menzalin ihn bis zum Tor und kehrte mit einem großen Schlüsselbund zurück, den er hin und her schwenkte. Immer mehr Biester folgten ihm, die sich lechzend an ihren eigenen Trieben vergnügten.

Und dabei habe ich mir wirklich Mühe gegeben. Nach dem Morgenrapport wählte ich zwei oder drei Soldaten aus und befahl ihnen, in die Küche zu gehen und so viel mitzunehmen, wie sie tragen konnten. Außer Menzalin, Lučić und der versammelten Hyänen, salutierten alle anderen ordentlich. Sie nannten mich Genosse Kapitän und befolgten ohne Widerrede meine Befehle. Menzalin folgte uns überallhin. Er schlich unter den Schatten umher und beobachtete mit einem Lächeln die guten Taten. Er rauchte in Ruhe und ließ zu, dass der Schweiz sein rotes Gesicht hinunterfloss. Er wusste, früher oder später würde die Dunkelheit anbrechen, die Vögel würden verstummen, und der Wind würde die Insekten auseinandertreiben. Wir schlugen gegen die Tür, so lange, bis die Männer sich rund um die kleine Öffnung versammelten. An Wasser fehlte es immer. Der Durst zuckte in den Blechcontainern wie eine wilde Katze. Die ausgetrockneten Kehlen schluckten alles, bis zum allerletzten Tropfen. Die Männer bedankten sich bei dem Menschen in mir und riefen Gott um Hilfe. Sie stellten Fragen, auf die ich keine Antworten hatte. Das einzige, was ich ihnen versprechen konnte, war, dass ich am nächsten Morgen wiederkommen würde.

Zirojević mischte sich nicht ein. Ab und zu schaute er durchs Fenster hinter dem Vorhang, grüßte Menzalin und frönte weiterhin seinem Rausch, zufrieden mit der Situation vor Ort. Die Hierarchie war präzise aufgeteilt. Die Nacht war also das unantastbare Reich des Folterers, der Tag war der Tag. Ein bisschen Wasser, ein bisschen Essen und ein Fünkchen verlogener Güte. Selbst heute bin ich mir nicht sicher, was ich diesen Leuten gegenüber empfand. Und ob jeder Bissen, den ich durch das Gitter schob, nichts anderes war als ein Spiegel des Hasses gegen Zirojević, Menzalin und ihresgleichen?

Jetzt spreche ich so, als wäre das Schlimmste tief eingegraben. Als wäre es schwer, zu ihm durchzudringen. Dabei erzähle ich die ganze Zeit von mir selbst. Meine Danka kennt fast die ganze Wahrheit, glaubt aber weiterhin, ich sei ein guter Mensch. Manchmal denke ich, dieser Irrtum ist der einzige Grund, warum wir noch immer zusammen sind. Ein paar Mal wollte ich sie schon schlagen, um ihr das Gegenteil zu beweisen. Die Güte wohnt nämlich nicht im Herzen des Branimir Lončar. Das wissen sogar die Knochen des deutschen Hühnerhundes, die im Hof vor sich hin faulen.

Ich hatte die Tür zugesperrt. Hatte sie zugeschlagen und den Schlüssel zwei Mal umgedreht, ich ließ den Hund kratzend, winselnd und jaulend zurück. Ich nuckelte an der Flasche und schluckte Schnaps. Böse Gedanken vermehrten sich wie Ratten. Ich durchleuchtete die Jahre und die Tage, zählte die Feinde, strich Freunde, Tragödien und glückliche Augenblicke durch. Der Hund lag auf der Kellertreppe, ermattet von seinen falschen Annahmen. Danka glaubt, er sei wegen der Kälte krepiert. Ich weiß, es ist die Enttäuschung, die ihn erschlagen hat. Aber am nächsten Morgen: die Frau ist schuld, der Schnaps ist schuld, der November ist schuld. Alle sind schuld, außer Bato Lončar, pensionierter Kapitän, dessen Schicksal es war, Leuchtturmwächter zu werden. Wüsste das Schiff, von wessen Licht es beschienen wird, würde es aufs Meer hinausfahren und sich nie mehr der Küste nähern.