Manchmal glotzte sie mich offen an, ohne Zurückhaltung oder erzwungene Höflichkeit. Dann fragte ich sie, was sie gerade dachte.
»Deine Nieren liegen frei. Wie früher, als du noch klein warst. Ein nackter Rücken ist der Tod für eine Frau. Ein langsamer Tod.«
»Nutella ist doch kein Essen. Manchmal musst du auch was Grünes essen. Weißt du, Ballaststoffe sind …«
Laufend quollen diese hinterwäldlerischen Predigten aus ihr hervor, voller Liebe, die keine Grenze kannte zwischen unerträglicher Krittelei und jener Sorge, die schon vor dem Kind geboren wird. Zumindest sagt man das so.
»Du bist an allem schuld«, sage ich und weiß, dass es nicht sie sein wird, die weint.
Auf einmal ist sie bei mir auf dem Bett, sie streicht mir übers Haar, zieht mir das Unterhemd runter, doch ich spüre ihre Berührungen nicht, nehme den Duft nicht wahr; jetzt ist sie schon ein wenig blass, wie ein Widerschein im trüben See meines Wunsches, sie zu umarmen. Auch ihre Stimme schwindet.
Ich bin überzeugt, der Grund dafür liegt darin, dass sie mich hier zwingen, permanent unter grellem Lampenlicht zu leben. Und dann diese Medikamente, die sie mir verabreichen. Sie verwässern meinen Stuhl und mir wird ganz schwindlig davon.
»Bin ich böse?«, frage ich sie, nachdem ich mir die Wangen mit dem Ärmel getrocknet habe und mich bemühe, den Juckreiz von dem Waschmittel, mit dem sie hier die Bettwäsche waschen, zu ignorieren, der mir durch den Schlafanzug unter die Haut kriecht.
»Wie könntest du denn böse sein, wo ich dich doch erzogen habe?«
»Das ist keine Antwort«, widerspreche ich ihr, wie so ein verzogenes Kind.
»Du bist verwöhnt und lebensunfähig; du warst viel zu sehr von mir abhängig, das ist alles mein Fehler«, kritisiert sie mich mit gedämpfter Stimme, dabei kann ich mich noch gut daran erinnern, dass sie mal lauter war.
»Bist du deshalb hier?«
»Ich gehe, wenn du mich lässt«, sagt sie schulterzuckend, pustet ihren Pony weg und dreht sich zur Seite, als gäbe es im Zimmer noch etwas außer diesem einen Bett, auf dem ich liege und dem Stuhl, auf dem sie sitzt.
»Ich bin noch nicht bereit. Ich kann die Tage hier alleine nicht ertragen.«
»Schlaf, Liebes«, flüstert sie, als wäre ich schon auf halbem Wege ins Traumland.
Ich weiß, dass ich nicht einschlafen werde, obwohl sie sich ebenso verflüchtigt hat wie die Erinnerungen in die Ferne rücken. Ich werde nicht einschlafen, so wie ich schon seit Tagen nicht mehr einschlafen kann.
Das Bild der brennenden Wohnung, des vom Schreien fast erstickten Babys, meines Ehemannes, der auf mich zustürmt; das Bild der Feuerwehrleute und der Polizisten, wie sie einander gehetzt etwas zurufen; der Sanitäterin, die schweißgebadet über dem Säugling kniet und das Bild meiner Mutter, die im Sessel sitzt, als wäre nichts passiert … Diese Bilder sind so stark und diese Stimmen so intensiv, dass sie alles wieder aufwecken, was in mir schon längst abgestorben ist. Vergangene Lieben, meine erste Adresse, Papas Telefonnummer bei seinem letzten Job, den Verkäufer apathischer Karpfen am Straßenrand, der aber schon vor Michael Jackson gestorben ist …
»Wie konntest du das Baby allein lassen, wo doch der Herd an war und Milch auf dem Herd stand?«, fragte er.
»Ich hab das Baby nicht allein gelassen, Mutter war da«, antwortete ich wütend, in Erwartung dessen, dass jemand rufen würde, all das sei nur ein Schauspiel oder etwas dergleichen.
»Wovon redest du da, um Himmels willen?«
»Mutter …« fuhr ich fort, aber er unterbrach mich.
»Mutter ist nicht mehr da, Barbara!«
»Aber sie ist doch hier, wie …« Ich drehte mich um.
Die lächelnde Mutter im Sessel betrachtete die Verzweifelten, die um ein Haar ihr Erstgeborenes verloren hätten. Ihn, den Gebrochenen und mich, die in der Zeit Verlorene. Sie ist ganz im Sessel versunken und winziger als je zuvor. Aber ohne Spiegelbild auf dem Glastisch, der jetzt verrußt ist, ohne Abbild im silbrigen Kochtopf, die Mutter im Sessel, aber ohne Abbild im Spiegel, der ihr Hintergrund für die alte Uhr, den Philodendron und den Lebensbaum war.
»Pass mal auf die Milch auf, ich muss schnell zur Apotheke«, hatte ich gesagt.
»Ich kann nicht auf deine Milch aufpassen, Barbara. Tu einfach so, als wäre ich nicht da.«
»Aber du bist doch da. Das Baby schläft, nimm einfach die Milch vom Herd, wenn sie kocht«, redete ich auf sie ein, während ich mir auf der Schwelle zwischen Wohnzimmer und Flur die Schnürsenkel zuband.
»Barbara, ich bin nicht hier«, wiederholte sie hartnäckig.
»Ich sehe dich doch. Ich bin gleich wieder da«, rief ich ihr aus dem Flur zu und zog die Tür zu.
Die Feuerwehrleute gingen raus, einer nach dem anderen. Es stank noch immer nach verbranntem Plastik und Stoff. Drago redete mit den Sanitätern und schaute von Zeit zu Zeit mit nervösem Kopfnicken zu mir, dann durch mich hindurch, mit einer gehörigen Dosis Furcht und Unglauben.
In meinen Gedankenwinkeln klappern Mutters Perlen, es ist kalt, Stille und Dunkelheit kollidieren unter meinen Wimpern.